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heute hier sind, müssen dafür dankbar sein, aber vor allem müssen wir uns fragen:
            Was ist der Sinn, hier zu sein, weil wir auch nicht mehr hier sein könnten. Nicht nur in
            Argentinien, sondern überall gab es Menschen, viele von ihnen sehr jung, die aufgrund
            der Pandemie heute nicht mehr auf der Welt sind. Aber wir sind hier. Deshalb halte
            ich es für wichtig, dass sie sich fragen: „Was möchte ich tun“. Das Ende einer Etappe
            ist immer auch der Beginn einer neuen, und darum geht es bei der heutigen Feier,
            wir werden immer mit diesen Fragen konfrontiert. Aber ich denke, man muss sich vor
            allem fragen: „Was will ich und was kann ich der Welt geben, nicht nur mit all dem,
            was ich gelernt habe, sondern auch mit all dem, was ich erlebt habe“.

            Bis jetzt seid Ihr wie auf einem Fluss gereist. So wie Herr Wehmann die Metapher des
            Berges verwendet hat, werde ich eine altbekannte Metapher verwenden, nämlich die
            des Flusses. Ihr seid immer auf dem Fluss gereist, in Begleitung Eurer Familien, Eurer
            Eltern, Eurer Lehrpersonen, mit Blick auf beide Ufer, aber immer auf dem Fluss, der
            manchmal – wie in den letzten beiden Jahren – reißend, manchmal ruhig, manchmal
            schnell,  manchmal  sehr  langsam  fließt.  Man  weiß  immer,  wo  der  Fluss  ist,  weil  er
            kanalisiert ist, man kann seine Ufer sehen, man fühlt sich geborgen. Und jetzt, wo
            euer Fluss das Meer erreicht, ist Eure Zeit gekommen. Der Anblick des Meeres kann
            manchmal Angst, manchmal Freude, aber vor allem Unsicherheit auslösen. In diesem
            Moment, in dem euer Fluss auf das Meer trifft, möchte ich Euch einige Worte des
            Dichters Khalil Gibran vorlesen:

            Man sagt, bevor er das Meer erreicht, zittert der Fluss vor Angst. Er blickt zurück auf den
            Weg, den er zurückgelegt hat, von den Gipfeln der Berge, den langen kurvigen Weg,
            der durch Wälder und Dörfer geht. Und vor sich sieht er den riesigen Ozean. Es gibt
            für ihn keine andere Möglichkeit, als darin für immer zu verschwinden. Es gibt keinen
            anderen Weg. Der Fluss kann nicht umkehren. Niemand kann umkehren. Umkehren
            ist in der Existenz unmöglich. Der Fluss muss das Risiko eingehen, in den Ozean zu
            fließen, denn nur dann verschwindet seine Angst. Dort wird der Fluss erfahren, dass es
            nicht darum geht, im Ozean zu verschwinden, sondern der Ozean selbst zu werden.

            Willkommen im Ozean. Viel Glück!

                                                                       Florencia Noguera
                                                                Schulleiterin der Sekundarstufe























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