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vor dem Examen“. So ausgedrückt steht ihr nun wieder vor einem Examen, das zu bestehen
          mindestens so schwer und anstrengend sein wird, wie die Abiturprüfung. Und wieder liegen
          Jahre des Lernens und Arbeitens vor euch, die ihr sehr viel selbstständiger bewältigen müßt
          als bisher. Hier heißt das Endspiel dann „Staatsexamen“ oder „Examen final de cada carrrera“,
          mit dessen Bestehen ihr in die Elite der Berufskarrieren befördert werdet, wo euch beste und
          ehrenvollste Berufe offen stehen.
             Da es für mich völlig außer Frage steht, dass ihr auch dieses nächste Ziel erreichen
          werdet, liege ich mit meinen Visionen nicht falsch, wenn ich euch anreden würde mit euerem
          zukünftigen Titel, wie für dich Harld mit Herr Ingenieur, die Astrid vielleicht mit Frau Doktor,
          wie wäre es bei dir, Federico mit Herr Rechtsanwalt, Wanda, Frau Richterin, vielleicht gibt
          es  demnächst  auch  einen  Herrn  Staatssekretär  Schulte  oder,  warum  nicht,  einen  Frau
          Botschafterin Muñiz. Die Türen zu diesen Berufen stehen euch nun offen und darin liegt
          das so überaus Reizvolle und gleichzeitig so unendlich Schwere euerer Situation.

             Nach dem Examen ist vor dem Examen!

             Ihr habt bereits einen großen Sieg errungen. Aber nun heißt es für euch gut zu überlegen,
          wohin das Schiff in die berufliche Zukunft abfahren soll, wo die eigenen Stärken aber auch
          die eigenen Schwächen liegen. Was erwarte ich von mir, was bin ich bereit zu geben und
          was bin ich fähig zu leisten? Die Beantwortung der Frage, welche Richtung wird mein weiteres
          Leben nehmen, wird viele noch sehr beschäftigen, vielleicht sogar um den ruhigen Schlaf
          bringen. Ich bin überzeugt, dass heute auf meine Frage nach dem Studienziel nicht wenige
          sagen würden, dass sie noch unentschlossen sind, zwischen zwei Alternativen schwanken,
          oder dass sie überhaupt keine Vorstellung haben, wie es weiter gehen soll. „Das weiß ich
          noch nicht“, war häufig die Antwort an meiner früheren Schule, „ich mache erst einmal ein
          soziales Jahr, dann sehe ich weiter.“ – Die Jungen hatten oft den erzwungenen Aufschub,
          denn mit Wehrdienst bzw. Zivildienst waren sie, zumindest für eine kurze Zeitspanne, von
          einer eigenen Entscheidung befreit. Aber die Frage muss irgendwann dann doch beantwortet
          werden, es gibt keinen Ausweg.

             Nach dem Spiel ist vor dem Spiel!

             Heute beginnt für jeden von euch das Ausloten des eigenen Ich in der Spannweite der
          Fähigkeiten und Aspirationen, und dieses müßt ihr in Bezug setzen zu den anderen verlangten
          Fähigkeiten, die die Ausübung des angestrebten Berufs so ganz selbstverständlich mit sich
          bringen, über das Fachwissen hinaus.

             Wie  sieht  es  mit  meinem  seelischen  Korsett  aus?  Bin  ich  der  Typ  für  diesen  Beruf?
          Hört euch einmal das Gespräch zweier Abiturienten an, die sich auf dem Weg zur Abiparty
          unterhalten:  „Benni,  was  will  denn  der  Andy  jetzt  nach  dem  Abi  studieren?“  –  „Ach,
          weißt du das nicht? Stell dir mal vor, er will Journalist werden?“ – „Ach komm, das glaubst
          du doch selbst nicht, der Andy und Journalist. Der Andy hat sich doch nie so richtig für
          Neues interessiert und auch in der Schule war er in Politik und Geschichte und in anderen
          Fächern auch nicht gerade eine Leuchte.“ – „Ich verstehe es auch nicht so ganz, denn
          er  ist  doch  viel  zu  still,  regelrecht  schüchtern.  Wie  will  er  das  packen?“  Natürlich  ist

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