Page 146 -
P. 146

DIE SCHULTÜTE: VOM ZUCKERTÜTENFÜRST
                         UND DEM ERNST DES LEBENS


          Immer wenn ich zu Besuch bei meinen Eltern in der Lüneburger Heide bin und dort das
          Familienalbum von meiner Mutter herausgeholt wird, gehört auch selbstverständlich
          das Zeigen des Bildes meiner Einschulung dazu, auf dem ich „stolz wie Bolle“ (wie
          man in Deutschland sagen würde) meine Schultüte präsentiere.

          Die Schultüte gehört in Deutschland zur Einschulung dazu wie Berliner zu Silvester,
          Plätzchen  zu  Weihnachten  und  der  „Tatort“  zum  Sonntagabend.  Generell  ist  die
          Einschulung  in  Deutschland  eine  große  Sache.  So  laden  Eltern  oftmals  Opas  und
          Omas sowie Paten oder andere enge Freunde der Familie ein, um den ersten Schultag
          zu feiern. Und oft müssen die ABC-Schützen, wie Erstklässlerinnen und Erstklässler
          noch häufig in Deutschland genannt werden, sich von Verwandten und Freunden
          den Kopf tätscheln lassen und den Spruch über sich ergehen lassen, dass nun „der
          Ernst des Lebens beginne.“ Da freut man sich dann als neue Schülerin oder Schüler,
          wenn man sich auf der Familienfeier in einem günstigen Moment von den nervigen
          Erwachsenen  und  ihren  guten  Ratschlägen  zurückziehen  kann  und  endlich  seine
          Schultüte, die in der Regel in ihrem kegelförmigen oder auch sechseckigen Bauch
          reichlich mit Süßigkeiten (heutzutage auch mit nützlichen Dingen wie Anziehsachen
          oder Ähnlichem) gefüllt ist, plündern kann.

          Woher  der  Brauch  der  Schultüte  so  genau  kommt,  weiß  man  nicht  so  genau.  Die
          ersten Erwähnungen von Schul- oder Zuckertüten gibt es wohl schon zum Ende des
          18. Jahrhunderts. Begonnen hat alles in Thüringen und Sachsen. So nimmt auch in
          Erich Kästners Kindheitserinnerungen „Als ich ein kleiner Junge war“ die Schultüte
          eine prominente Rolle bei der Beschreibung seiner Einschulung in Dresden im Jahr
          1906 ein:

            „Die  Eltern  standen  dichtgedrängt  an  den Wänden  und  in den Gängen,
            nickten ihren Söhnen ermutigend zu und bewachten die Zuckertüten. Das war
            ihre Hauptaufgabe. Sie hielten kleine, mittelgroße und riesige Zuckertüten in
            den Händen, verglichen die Tütengrößen und waren, je nachdem, neidisch
            oder  stolz. Meine  Zuckertüte  hättet  ihr  sehen  müssen! Sie  war  bunt  wie
            hundert Ansichtskarten, schwer wie ein Kohleneimer und reichte mit bis zur
            Nasenspitze! Ich saß vergnügt auf meinen Platz und kam mir vor wie ein
            Zuckertütenfürst.“ *
          Für  ganz  Deutschland  geht  man  davon  aus,  dass  sich  die  Schultüte  (die
          in  einigen  Teilen  Deutschlands  weiterhin  Zuckertüte  heißt)  wohl  erst  im
          „Wirtschaftswunderdeutschland“  der  50er  Jahre  durchgesetzt  hat.  Mittlerweile  ist
          eine Einschulung ohne Schultüte undenkbar. Waren die ersten Schultüten oftmals
          liebevoll selbstgebastelt, werden mittlerweile fertig produzierte Schultüten gekauft,
          auf denen Kinderhelden wie Lightning McQueen und Marvel- und DC-Superhelden
          abgebildet  sind.  Auch  der  Inhalt  der  Schultüten  hat  sich  stark  geändert:  Waren
          bei  Erich  Kästner  in  der  Schultüte  noch  „Bonbons,  Datteln,  Osterhasen,  Feigen,
          Apfelsinen,  Törtchen,  Waffeln  und  goldene  Maikäfer“*  drin,  diskutieren  Väter  und
          Mütter heute auf Elternblogs, ob ein Smartphone in die Schultüte gehört. Leider ist
          damit  die  Schultüte  auch  häufig  zum  Statussymbol  geworden  und  Eltern  geraten

                                              148
   141   142   143   144   145   146   147   148   149   150   151