1934 | Zwei Ansprachen – Goethe-Schule


Liebe Eltern, Lehrer und Mitschüler!

Im Namen meiner Kameraden stehe ich heute hier, um zu Ihnen Worte des Abschieds zu sprechen. Heute treten wir als Schüler aus der Gemeinschaft dieser Schule heraus, um von nun ab anderen Wirkungskreisen anzugehören. Alles was uns forthin mit dieser Stätte verbinden wird, ist die Erinnerung, und so will ich denn diese Gelegenheit benützen um Ihnen zu sagen, welche Gedanken wir von diesem Abschnitt unseres Lebens mitnehmen.
Ich könnte Ihnen, wie es schon oft vor mir getan worden ist, von lustigen Begebenheiten, Streichen und kleinen Abenteuern erzählen. Ich würde Ihnen damit aber nur Dinge sagen, die Sie schon längst wissen und die ja im Grunde genommen unwichtig sind. Nein — ich will Ihnen von etwas sprechen, was nicht die Schulzeit eines jeden auszeichnet, etwas was ich aber einem jedem wünsche: Lehrer, die sich nicht darauf beschränken, Wissensvermittler zu sein, sondern die ihre Aufgabe darin sehen, den Schülern Vorbild und Führer zu bedeuten. Diese Auffassung erfordert sicher sehr viel Hingabe an den Beruf, wenn nicht die Gefahr bestehen soll, daß im Einerlei der Tage diese Zielsetzung verloren geht. Hier ist es Aufgabe der Schüler, ihren Lehrern entgegenzukommen und ihnen bei dieser schweren Arbeit zu helfen, indem sie in ihnen nicht eine feindliche Autorität erblicken, sondern Menschen, deren Wollen und Ziel es ist, ihnen einerseits das Rüstzeug für den späteren Lebenskampf mitzugeben und zum anderen sie zu wertvollen und selbstbewußten Menschen zu formen.
Während der Schulzeit stehen wir noch viel zu sehr im Betrieb, als daß wir voll erkennen könnten, was die Lehrer mit ihrer aufopfernden Tätigkeit für unser späteres Leben bedeuten. Auch heute, drei Wochen nach unserer Abschlußprüfung, ist der Eindruck der letzten Monate noch zu frisch und zu vorherrschend, als daß wir wissen könnten, was wir an Positivem aus dieser Zeit mitnehmen. Genau wissen können wir es noch nicht, höchstens ahnen… Aber eines ist mir schon heute zur unumstößlichen Gewißheit geworden: Wir schulden Dank, großen Dank.
Und noch andere Gedanken sind es, die mich beim Verlassen dieser Gemeinschaft begleiten. Hier im Ausland gibt uns die Schule nicht nur Wissen mit, sondern sie schafft auch, gemeinsam mit der Familie, die Grundlage unseres Deutschtums. Sie hat uns mit deutscher Geschichte, deutscher Dichtung und Philosophie in Berührung gebracht und damit unser gesamtes Fühlen, Empfinden und Denken ausschlaggebend beeinflußt. Dies ist es, was uns hier draußen besonders stark mit der Schule verbindet, denn wir danken es ihr, wenn wir deutschem Wesen und deutscher Art für immer verhaftet sind.
Und Euch Mitschülern und Mitschülerinnen möchte ich sagen: Wenn Ihr auch zum größten Teil hier geboren und demnach argentinische Staatsangehörige seid, so tragt ihr doch deutsche Namen und sprecht die deutsche Sprache. Vergeßt nie, daß dies eine hohe Verpflichtung in sich schließt, denn nach Eurem Verhalten wird Eure Schule, wird jeder Deutsche und Deutschsprechende, wird das ganze Deutsche Volk beurteilt.
Diese Verantwortung, das Viele, was uns die Lehrer gegeben haben, und die oft bewiesene Kameradschaft unser Mitschüler werden unauslöschlich mit der Erinnerung an diese Zeit verbunden sein, und in uns immer ein Gefühl tiefer Dankbarkeit hervorrufen, wenn wir an unsere Schule zurückdenken.
Schlottmann.

Meine lieben Kameraden von der Oberprima!

Als wir vor zwei Wochen in den letzten Unterrichtsstunden beisammensaßen, um uns den letzten Schliff zu geben für die Abschlußprüfung, da dachte ich nicht, daß ich, Ihr Deutsch- und Geschichtelehrer, noch einmal die Freude haben sollte, zu Ihnen zu sprechen.
Nun ist mir doch noch diese Gelegenheit gegeben worden, noch einmal zu Ihnen allen zusammen zu sprechen und ich möchte diese Minuten benützen zu einem kleinen Zwiegespräch zwischen Ihnen und mir über das, was wir in den letzten Jahren gemeinsamer Arbeit geleistet haben und was diese Leistung für uns bedeutet.
Ich sage Zwiegespräch, obwohl ich hier allein spreche, da ja alles, was ich sage, eigentlich nur Erinnern ist an Dinge, welche wir oft besprachen und an Erlebnisse, die uns gemeinsam sind.
Und weil es die Abiturienten sind, die oberste Klasse unserer Schule, sollt auch Ihr, meine jungen Kameraden und Freunde, zuhören und merken auf das, was wir uns hier zum Abschied sagen.
Oft genug hat man Ihnen in den letzten Monaten gesagt, daß nun nach dem Verlassen der Schule ein neuer Lebensabschnitt für Sie beginne. Sehen wir auf die Zeit zurück, die Sie äußerlich mit dem heutigen Tage abschließen, so liegt die Bedeutung Ihrer Schulzeit in zwei Dingen: Einmal ist es die oft besprochene Vorbereitung zur wirtschaftlichen Selbständigkeit — zweitens aber schließt der Abschnitt etwas Grundlegendes in sich ein. Es ist die Zeit, in der Sie mit der Gesamtheit der geistigen Güter des deutschen Volkes Zusammentreffen. Und so gesehen, ist die Schulzeit nicht Vorbereitung für einen späteren Lebensabschnitt, sondern stärkstes Leben selbst.
Hier in diesem Hause, in diesen Jahren Ihres Lebens, wurde Ihr geistiges Dasein geformt, wurden die Kräfte in Ihnen geweckt, die Sie zu mehr machen, als zu einem wirtschaftlichen Faktor im Kampf um das wirtschaftliche Dasein. Es ist der deutsche Volksgeist, der in seiner ganzen Vielfältigkeit, Weite und Tiefe Ihnen gegenübertritt und von Ihnen verlangt, daß Sie sich seiner bemächtigen. Die geistigen Güter des deutschen Volkes, am ausdrucksvollsten dar gestellt in den Schöpfungen der Dichter und Denker, wollen auch von Ihnen aufgenommen sein. Das Bildungsgut, das die Schule überliefert, hat weit mehr Bedeutung als die der zu erwerbenden Fertigkeit. Sie selbst sollen sich an ihm als Deutsche erkennen, in sich die Kräfte des Volkstums wecken und stärken, dem Sie angehören, unbeschadet der staatlichen Zugehörigkeit jedes Einzelnen.
Das deutsche Volk selbst spricht hier in der Ueberlieferung zu Ihnen, so wie es durch seine Geschichte hindurch, immer sich wandelnd, doch immer gleich, sich selbst ausgesprochen und dargestellt hat, und es stellt sich Ihnen in dem dar, was es selbst der Ueberlieferung für wert gehalten hat. Aus dem Werke des Denkers spricht es: Höre mich, so denke ich; aus dem Werk des Dichters: So fühle ich; aus dem Wort des Staatsmannes: So will ich.
Wer in dieser Schulzeit mit Begierde auf diese Stimme des deutschen Volkes hörte und danach trachtete, sich an der Ueberlieferung zu schulen und zu stärken, selbst deutsche Form durch deutschen Inhalt zu gewinnen, der hat getan, was das deutsche Volk von ihm als einem seiner Glieder in diesen Jahren seines Lebens verlangt. Und wer in den geistigen Gütern, in deutscher Dichtung und in deutschem Denken, sich im Innersten angesprochen fühlte und antworten konnte, der bezeichne sich getrost als Deutscher. Er ist es sicherer als solche, die laut sich als Deutsche verkünden und den Anschluß an die geistige Ueberlieferung ihres eigenen Volkes nicht finden können.
Das Deutsche Reich hat durch seinen Gesandten in Buenos Aires eine Ausgabe von Goethes Werken gestiftet. Sie soll jedes Jahr an den Abiturienten mit den besten Deutsch-Leistungen gegeben werden.

Wir sehen darin nicht eine zufällige Huldigung für den Namen der Schule. Wir deuten diese Stiftung wohl richtig, wenn wir darin den Willen sehen, das Dauernde über das Zeitliche zu erheben, die große Gestalt des deutschesten Menschen als Vorbild und Sinnbild hinzustellen. Goethes unerschütterte Gestalt, die nun schon 150 Jahre lang das deutsche Volk beeinflußt und in der das deutsche Volk sich immer wieder neu erkennt, die auch heute noch zu uns spricht, wie sie noch sprechen wird, solange es ein deutsches Volk gibt — sie ist es, die über allem Vergänglichen als ein Gleichnis des Dauernden steht.
Wir haben bestimmt, daß Hilde Roehmer diese Goetheausgabe erhalten soll, und ich bitte Sie, diese hier vor allen Ihren Kameraden zu empfangen.
Ich freue mich, daß ich als Erster diese bedeutungsvolle Gabe überreichen kann und freue mich, daß ich sie Ihnen übergeben kann. Sie werden die Anerkennung Ihrer Leistung im Goetheschen Sinne als eine Verpflichtung erfassen.
Einige Worte zum Schluß. Die Oberprima ist immer die Beispielklasse der Schule, diejenige, an der Können und Wert der ganzen Schule gemessen werden. Und wenn Schlottmann vorhin Ihren Dank ausdrückte für das, was Schule und Lehrer für Sie bedeuteten, so möchte ich Ihnen von dieser Stelle aus den Dank der Schule und der Lehrer aussprechen, daß Sie eine Klasse waren, bei welcher man nicht, wie bei manchen anderen, zu zweifeln brauchte, ob sie als oberste Klasse an der richtigen Stelle sei. Ich möchte dafür drei Dinge herausheben, die sich auf Ihre Stellung als Oberprima beziehen.
Es ist einmal das Gegenseitigkeitsverhältnis von Lehrer und Schüler, das bei Ihnen in den letzten Jahren fruchtbar wurde. Es ist ja nicht so, daß nur der Schüler vom Lehrer empfängt, sondern, wie es bei einer so engen und verantwortungsvollen Lebensgemeinschaft nicht anders möglich ist, auch der Lehrende empfängt. So, wie Sie sich führen ließen, gestellte Aufgaben angriffen, Anregungen aufnahmen, Eigenes gaben, erregten Sie auch dem Lehrenden neuen Mut und Sie können sich sagen, daß Ihr Verhalten sich auswirken wird auf die folgenden Jahrgänge. Was Sie Gutes taten, dadurch, daß Sie den dummen Pennälergeist zu überwinden suchten zugunsten einer gemeinsamen Arbeitsgesinnung, dieses Gute wird den späteren Klassen durch die Arbeit ihrer Lehrer wieder zugute kommen.
Ein Zweites ist Ihre Haltung der Reifeprüfung gegenüber. Auch hier handelt es sich ja um mehr als eine schultechnische Frage und um ein Zeugnis. Hinter der Prüfung steht die deutsche Kolonie, die diese) Schule geschaffen hat und Ihnen diese Bildungsmöglichkeit zur Verfügung stellt, durch sie fragt Sie das deutsche Volk: Was hast du mit den Gütern gemacht, die wir geschaffen und überliefert haben? Leget Rechenschaft ab von dem, was Du erworben hast! Sie haben eingesehen, daß man dieser Frage mit einer entsprechenden Gesinnung entgegentreten muß, daß hier nicht Ziehharmonikaspielen und Vorfeiern am Platze sind, sondern Sammlung und ernste Arbeit. Sie haben sich’s sauer werden lassen, das gibt der Leistung ihren Wert.
Daß diese Gesinnung Heiterkeit nicht ausschließt, zeigt die Abschiedsfeier, welche die Unterprima der Oberprima gab. Sie ist das Dritte, womit ich Ihre Klasse kennzeichnen möchte. Denn auch hier haben Sie eine Haltung gefunden, die der Jugend unserer Gegenwart entspricht, nicht Nächte mit Kommersen und Bierzeitungen hinzubringen, sondern im Freien, am hellen Tage, mit Sport und Spiel die Kräfte zu messen. Ich denke an die besten Zeiten des Griechentums, in denen bedeutungsvolle Tage mit Kampfspielen gefeiert wurden.
Nach all diesem brauche ich Sie zum Schlüsse nicht zu bitten, Ihrer Schule Treue zu bewahren. Es wird für Sie selbstverständlich sein, uns hier immer wieder zu besuchen, uns zu benachrichtigen von Ihrem weiteren Lebenswege. Sie werden sich wiederfinden lassen, wenn die Schule Sie einmal braucht und wenn wir einmal alle Abiturienten der Goetheschule zusammenrufen werden zu einem Er inner ungstage, so werden auch Sie nicht fehlen.
Damit bin ich am Ende. Ich fasse alles noch einmal zusammen in die Worte des Abschiedsliedes, das wir Ihnen und den aus der Schule scheidenden Lehrern nachher singen werden, das gedichtet ist von dem Dichter des Deutschlandliedes. Es sind die Worte:
„Wer es gut gemeint, bleibt mit uns vereint, so, als gäb’ es gar kein Scheiden.
Bruder, nimm die Hand jetzt zum Unterpfand, daß wir treugesinnt verbleiben.
Redlich sonder Wank’, frei von Neid und Zank, stets in unser’m Tun und Treiben.
Endlich wird’s einmal geschehen, daß auch wir uns Wiedersehen, und uns wieder freu’n, und den Bund erneu’n.
Lebe wohl, auf Wiedersehen!“
Rohmeder.