1972 | Geschichte der Goethe-Schule


Belgrano gegen Ende des vorigen Jahrhunderts

Werner Hoffmann

Thomas Turner, der im Jahre 1892 das Buch “Argentine and the Argentines” veröffentlichte, war der Meinung, dass sich der Europäer in den Vorstädten von Buenos Aires wohler fühle als im Zentrum der Stadt, das er nüchtern und hässlich fand, der materialistischen Einstellung ihrer Bewohner entsprechend. “Es gibt kaum etwas, was einem malerisch oder poetisch erscheinen könnte in Buenos Aires, dieser Stadt des krassen Materialismus”, sagt er, «in der die Menschen von schmutziger Gewinnsucht besessen sind oder von grober Sinnlichkeit, diesem gottlosen, selbstsüchtigen Babylon mit seiner Äußerlichkeit, seiner Putzfreude und der oberflächlichen Bewunderung der Zivilisation, mit seinen ermüdend langen Straßen, in denen ein Häuserblock wie der andere aussieht. Pittoresk ist allenfalls Palermo und Recoleta und vielleicht die eine oder andere abgelegene Quinta —sonst nichts. Aber es gibt einige hübsche Vororte — hübsch im Verhältnis zur Stadt — zum Beispiel Belgrano, das an Palermo grenzt.”

Wahrscheinlich war Belgrano darum schon 1869, als die erste Volkszählung veranstaltet wurde, fast zur Hälfte von Ausländern bewohnt: Von den 2760 Einwohnern waren 1258 Ausländer, fast ausschließlich Europäer. Bis vor kurzem hatte der Ort, der einmal Rosas gehört hatte, La Calera, die Kalkgrube, geheißen. Er reichte von der Monroe bis zur Pampa und von der Cramer bis zur Once de Setiembre, und seine Sehenswürdigkeiten waren: die Quinta Corvalán (ein Corvalán war Rosas’ Adjutant gewesen) auf dem Gelände, das heute dem Club Belgrano gehört, die Kapelle an der Ecke Pampa und Once de Setiembre, der alte Ombú in ihrer Nachbarschaft und die Schenke La Blanqueada an der Ecke Cabildo und Pampa mit ihrem schönen Baumgarten. Am Rande der Ortschaft, in der Gegend der heutigen Station Belgrano R lag der Rennplatz, der fast dreißig Jahre lang, von 1857 bis 1886, die Hauptattraktion Belgranos war. Jenseits der Once de Setiembre erstreckte sich das Arbeiterviertel Bajo Belgrano, in das bei Regenwetter das Wasser sturzbachähnlich hinabströmte. In den siebziger Jahren wurden das Rathaus (heute Museo Histórico Sarmiento) und die Kirche an der Plaza gebaut. Und im Jahre 1880 war Belgrano fünf Monate lang Sitz der Landesregierung. In dieser Zeit tauchen die ersten deutschen Namen in den Listen der Mitglieder des Gemeinderats auf: Franz Halbach gehörte der Bibliotheks-Kommission des Jahres 1883 und Ernst Tornquist dem Stadtrat an.

Leopold Schnabl, argentinischer Konsul in Budapest, erzählt in seinem Buch “Buenos-Ayres, Land und Leute am silbernen Strome” (Stuttgart, 1886), wie das Ansehen der Deutschen in Argentinien in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts überraschend wuchs. “Die soziale Stellung, die den Söhnen der Nation der Denker so lange verweigert wurde, war plötzlich mühelos erobert für die Kanoniere von König Grätz und Sedan.” Eine rege Nachfrage nach deutschen Offizieren für das Heer und deutschen Professoren für die Universitäten setzte ein. Vor allem blühte der deutsche Handel mit Argentinien auf. “Schlag um Schlag kamen deutsche Gewebe, deutsches Glas, deutsches Porzellan die La Plata-mündung heraufgeschwommen, und Engländer wie Franzosen sahen bald auf diesem, bald auf jenem Punkte eine rastlos tätige, allumfassende Konkurrenz neben sich erscheinen und sich behaupten.” Die Einfuhr aus Deutschland macht 1884 bereits 9 % des Gesamtimports aus und eine ähnliche Höhe erreicht die Ausfuhr nach Deutschland. “Ein halbes Dutzend deutscher Firmen wie Mallmann, Tornquist, Bemberg-Heimendahl, Bracht, von Eiken repräsentiert eine Kapitalkraft von 100 Millionen Francs.”

Allerdings stellt Schnabl auch fest, dass der neue Wohlstand nicht allen gut bekommt: Während die Deutschen früher zusammenhielten, in Buenos Aires wie im Inneren des Landes, machen sich nun Konkurrenzneid und Kastengeist bemerkbar. Doch man ist immerhin noch bereit, für gemeinnützige Einrichtungen Opfer zu bringen, etwa für den deutschen Hilfsverein oder das deutsche Hospital, das von dem Architekten Moog erbaut und 1878 eingeweiht wird, und natürlich auch für die deutschen Schulen.

Den Deutschen in Belgrano, deren Zahl ständig wuchs, verursachte die Frage, auf welche Schule sie ihre Kinder schicken sollten, ernsthaftes Kopfzerbrechen. Obwohl ein Deutscher, Adam Altgelt, eine Zeitlang Präsident der Schuldirektion von Belgrano ist, haben die meisten zu den beiden staatlichen Schulen für Knaben und Mädchen an der Plaza kein rechtes Zutrauen. Noch weniger vertrauenerweckend sind die Privatschulen. Da hat zum Beispiel ein gewisser Jose Castillo eine Schule an der Ecke Blanco Encalada und Cabildo, aber der Herr Direktor fabriziert zugleich Sidra, wenn das Geschäft es erfordert, sogar während der Schulstunden, außerdem stellt er Heiligenbilder her, für deren Wimpernhaare und Augenbrauen er Locken seiner Schüler verwendet. Es gibt auch philanthropische Institutionen unter diesen Privatschulen, z. B. die katholische Schule eines Kapuziners, die mit einem Asyl für arme Kinder verbunden ist. Aber die meisten von ihnen sind geschäftliche Unternehmungen, so auch die deutsche Schule eines Herrn Cernofsky, der in der Ortszeitung “La Prensa de Belgrano” inseriert und eine Unterstufe mit den Fächern der argentinischen Volksschule und einen Oberkurs mit deutschem, italienischem und französischem Sprachunterricht und den Fächern Mathematik, Erdkunde, Zeichnen, Hygiene und Buchführung ankündigt, während seine Frau Amelia de Cernofsky ein ähnlich anspruchsvolles Programm für die Mädchenabteilung annonciert. Da die Anzeigen nur im Jahre 1874 erscheinen, kann die Schule kein langes Leben gehabt haben.

Nun gab es freilich eine gute deutsche Schule im Zentrum der Stadt: die 1843 gegründete Evangelische Gemeindeschule. Aber die Fahrt bis zur Esmeralda, wo die Gemeinde ein eigenes Kirchen- und Schulgebäude gebaut und 1853 eingeweiht hatte, war weit. Es bestand zwar seit 1862 eine Eisenbahnverbindung mit der Stadt, von der Station Valentin Alsina aus, die etwa hundert Meter nördlich von Belgrano C zwischen der Juramento und Mendoza lag; und später kam eine zweite Linie, Buenos Aires-Rosario, mit der Station Belgrano R, hinzu. Wer in der Nähe einer der beiden Stationen wohnte, konnte bei fahrplanmäßigen Verkehr der Züge in zwanzig Minuten nach der Estación Central, einem schäbigen Holzgebäude am Paseo de Julio (Leandro N. Alem), kommen. Doch bis zur Esmeralda hatte man dann noch ein gutes Stück zu laufen. Nicht viel besser war die Verbindung mit der von Pferden gezogenen Straßenbahn Der unternehmungslustige Mariano Billinghurst hatte 1873 eine Linie von der Plaza de Mayo nach Belgrano eingeführt, mit der man angeblich in vierzig Minuten vom Stadtzentrum bis zur Ecke Juramento und Cabildo kommen konnte. Aber da die Straßen in keinem guten Zustand waren (in Belgrano hatte nur die Juramento eine Art Katzenkopfpflaster) und sich bei Regen in einen Sumpf verwandelten, blieb der Fahrplan ein Wunschtraum. So schien cs keine andere Lösung als die Gründung einer deutschen Schule in Belgrano zu geben.

Die Deutsche Höhere Knabenschule Belgrano wird gegründet

Vor 75 Jahren, am 15 Februar 1897, wurde die deutsche Schule in Belgrano eröffnet, aus der die Goethe-Schule hervorgegangen ist.

Wenn eine Schule in Deutschland ihr fünfundsiebzigjähriges Bestehen feiert, so ist das kein besonderes Ereignis. Nicht nur, weil 75 Jahre für eine Schule in Deutschland kein hohes Alter darstellen, auch deshalb weil es keine große Leistung bedeutet, diese Zeit überstanden zu haben: Vom Staat begründet und vom Staat erhalten, von den Kindern der Nachbarschaft besucht, lebt eine Schule in Deutschland sozusagen automatisch weiter. Eine deutsche Auslandsschule bleibt nur dann bestehen, wenn die Eltern, die Lehrer und die Schüler selbst Opfer bringen. Doch wie alles, wofür man Opfer bringt, einem besonders am Herzen liegt, so ist auch die Bindung zwischen einer Schule im Ausland, ihren Lehrern, Schülern und Ex-schülern enger als es in Deutschland gewöhnlich der Fall ist.

Zweimal haben die Schülerväter die harte Aufgabe übernehmen müssen, einen Verein zu gründen der als juristische Person von der Behörden anerkannt werden musste, das Geld für den Kauf eines Grundstücks und den Bau eines Schulhauses zusammenzubringen und ihr Unternehmen zu erhalten, unter Berücksichtigung aller amtlichen Bestimmungen über Unterrichtsprogramme, Lehrergehälter, Pensions-kassenbeiträge und was es sonst noch gibt. Als die Goethe-Schule im Jahre 1945 geschlossen und das Gebäude beschlagnahmt wurde, war es unmöglich vorauszusagen, ob und wann man einmal wieder in die José Hernandez 2247 einziehen könnte. Man musste in Martinez mit der Escuela del Norte von vorn anfangen, und die neue Schule, die von vielen deutschen Kindern, deren Eltern an der Nordstrecke wohnten, besucht wurde, blieb auch nach der Rückgabe des Gebäudes in Belgrano bestehen.

Auch die Lehrer brachten Opfer, wenn sie das bequeme und sichere Leben in der Heimat mit der Tätigkeit im Ausland vertauschten, die sie zum Umlegen und zur Anpassung in vieler Hinsicht zwang. Sie mussten die Bestimmungen der Behörden des Gastlandes über Unterrichtspläne und Lehrtätigkeit berücksichtigen, auf die Wesensart der deutsch-argentinischen Kinder eingehen und mit den Schulvorständen auskommen. Das ist manchen von ihnen nicht leicht gefallen, obwohl die Schulvorstände in Buenos Aires entschieden toleranter als in Südbrasilien sind. Was für Bedingungen dort in einer Dorfgemeinde dem Lehramtskandidaten gestellt wurden, zeigt ein Protokoll, das Paul Rohrbach in einem Aufsatz über Auslandsschulen mitteilt. Wir wollen es zur Erheiterung unserer Leser hier einschalten (es ist nicht von einem Humoristen erfunden, sondern echt): Verhandelt in der Batatenschneiz am 10. September 1898. Anwesend zwanzig Familienväter. Es erscheint der Schulamtsbewerber Balduin Zitz aus Deutschland. Demselben wird hierdurch die Schulstelle übertragen unter folgenden Bedingungen: Der p. Zitz bekommt an Gehalt pro Kind und Monat einen Milreis (damals ungefähr eine Mark). Er hat von morgens 7 Uhr bis 11 Uhr Schule zu halten und Sonntags in der Kirche vorzusingen. Außerdem hat er bei den Beerdigungen mit den Schulkindern auf Wunsch einen Choral zu singen. Er isst mittags und abends bei Michel Heller, der sich freundlichst hierzu erboten hat, morgens kann er eine Cuya Matte trinken. Krank werden darf er nicht, auch nicht Montags. Heiraten darf er auch vorläufig nicht; denn sonst muss eine Küche angebaut werden. Die Kinder hauen darf er, aber nicht an den Kopf und nicht mit einem Seil oder Zügeln. Zu Tanz gehen darf er. Neue Schulbücher darf er aber nicht einführen, auch nicht die Schiefertafeln den Kindern an den Kopf schlagen. Pump in der Venda (Laden) wird nicht von der Gemeinde bezahlt. Wenn er’s leid ist, kann er jederzeit gehen. Solches wird dem p. Zitz bestätigt und hiermit bescheinigt. Der Schulvorstand.”

Aber nicht nur von Eltern und Lehrern werden Opfer verlangt, auch die Schüler müssen wesentlich mehr Zeit und Arbeit aufwenden, um an einer deutschen Auslandsschule bis zur Abschlussprüfung zu gelangen, als ihnen das Abitur an einer Nationalschule kosten würde. Häufig überschneiden sich die Themen in den beiden Programmen, nach denen sie unterrichtet werden. Und außerdem verlangt man von ihnen, dass sie sich in zwei Sprachen korrekt und geläufig ausdrücken können. Soweit diese Opfer nicht nur ideelle Werte, sondern auch greifbaren Nutzen einbringen, machen sich die Vorteile erst später geltend, wenn sich die jungen Leute auf der Universität oder im Leben auf Grund ihrer intensiveren Vorbildung als überdurchschnittlich tüchtig erweisen. Vorher hat gewiss mancher die Marotte seiner Eltern, ihn auf eine deutsche Schule zu schicken, verwünscht, wie auch mancher Vater daran gezweifelt haben mag, ob sich die Ausgaben und Unbequemlichkeiten, die er für seine Kinder auf sich nahm, lohnen würden. Nicht für alle Eltern ist der wesentliche ideelle Gewinn: die Erhaltung des Volkstums, die ohne Unterricht in der Muttersprache unmöglich ist, ein hinlänglicher Grund dafür, ihre Kinder auf eine deutsche Schule zu schicken, vor allem nicht in Zeiten politischer Krisen in der deutschen Heimat, in denen man sich eher um Anpassung an die Umwelt bemüht.

Trotz alledem hat es unsere Schule auf 75 Jahre gebracht und sie wird hoffentlich noch ihr zweites Jahrhundert erleben. Unser geschichtlicher Rückblick soll die Erinnerung an Persönlichkeiten, die die Schule tatkräftig gefördert haben, wach erhalten und die Etappen ihre Geschichte heraussteilen.

Die Gründung der Deutschen Höheren Knabenschule Belgrano wurde auf einer von Herrn Christian Hansen einberufenen Versammlung am 15. Dezember 1896 beschlossen. Zugleich wurde der Deutsche Schulverein Belgrano geschaffen, in dessen Vorstand die Herren Christian Hansen, Hugo von Bernard, Adolf Breyer, Diego Doertzenbach, Hermann von Freeden, Gottfried Malm, Hans Richter, Christian Säger, Walter Schneidewind, Wilhelm Uhde und Kaspar Zueblin gewählt wurden. Der Deutschen Verein in der Calle Cuba 2410 vermietete dem Vorstand die Räume, die er brauchte, um zwei Monate später seine Schule mit zwölf Schülern zu eröffnen.

Einer der zwölf, Herr Carlos von Bernard, heut Präsident der Calera Avellaneda, schreibt über das erste Schuljahr: «Die Schule befand sich in einem Haus zu ebener Erde, Ecke Cuba und Blanco Encalada. Die letztgenannte Straße war seinerzeit noch ein gepflasterter Graben, welcher im allgemeinen trocken war, aber bei Regen zu einem Bach – manchmal zu einem sehr wasserreichen Bach – anschwoll, so dass wir manchmal die dort angelegte schmale Brücke, ausschließlich für Personenverkehr, nicht benutzen konnten.. . Die ersten Schüler, deren Namen ich erinnere, sind außer meinem verstorbenen älteren Bruder Franz die Söhne der verschiedenen Gründer gewesen: zwei Widenmayer, Paul Dörtzenbach und die Söhne des Herrn Mallmann: Emil, Otto, Ernesto und Arturo. Unser erster Lehrer war gleichzeitig auch Direktor der Schule K. F. Mayer.” Anderthalb Jahre lang blieb die Schule in der Calle Cuba. Da die Schülerzahl im Jahre 1898 auf 37 stieg und man fünf Räume für die drei Grundschulklassen, die Sexta und Quinta brauchte, die im Deutschen Verein nur provisorisch untergebracht werden konnten, musste man im November 1898 in das Haus Cabildo 1891 umziehen, das der Schulverein gemietet hatte. Sechs Jahre lang reichte das neue Gebäude dank einiger Umbauten für die stetig wachsende Schülerschaft aus, die sich im Laufe der Zeit auf zehn Klassen von der Nona bis zur Obersekunda verteilte. Dann musste man an den Kauf eines Grundstücks und den Bau eines eigenen Schulhauses denken. In dem Miethaus an der Cabildo wurde später ein Lokal eröffnet, dessen Spezialität Froschschenkel waren. Man saß im Hof oder in einem der ehemaligen Klassenzimmer, die um den “Patio” herum angeordnet waren. Mancher Deutsche hat hier gegessen, ohne zu ahnen, dass hier jahrelang die deutsche Jugend von Belgrano unterrichtet worden war.

Der Unterricht fand nach den Plänen des deutschen Realgymnasiums statt, und die Lehrer waren deutsche und Schweizer Volksschullehrer, Pfarramtskandidaten oder Oberlehrer. Erst im dritten Jahresbericht des Schulvereins vom 28. Februar 1900 heißt es: “Damit die Landessprache durch einen Lehrer, der sie als Muttersprache spricht, vertreten sei, wurde am 15. Februar der an der Escuela Normal in Montevideo geprüfte und diplomierte Lehrer Herr Juan Morales-Granes angestellt.” Besonderen Wert legte der Vorstand darauf, dass die modernen Fremdsprachen Englisch und Französisch “nach der Konversationsmethode, ohne Zuhilfenahme des Deutschen” gelehrt wurden. In dieser Beziehung, die für die praktisch eingestellten deutsch-argentinischen Eltern besonders wichtig war, hatte die Belgrano-Schule also einen Vorsprung vor den meisten deutschen Realgymnasien.

Für die betont deutsche Einstellung des Vorstandes ist folgender Satz aus dem Jahresbericht vom Februar 1901 bezeichnend: “Um in erster Linie den frischen, moralisch gesunden deutschen Charakter der Schule immer mehr zu befestigen, hat der Vorstand beschlossen, die Zahl der Knaben nicht deutschsprechender Schüler nach Möglichkeit zu beschränken.” Bei der Auswahl der deutschen und Schweizer Lehrkräfte berieten zwei Vertrauensmänner den Vorstand, ein Oberlehrer aus Remscheid und ein Professor aus Winterthur. Solange Herr von Freeden, der dem Vorstand des Schulvereins angehörte, Vertreter der Deutschen Dampfschifffahrtgesellschaft “Hansa” in Bremen war, hatten die Lehrer freie Reise.

Beim Ausbau der Schule bemühte man sich darum, die Fächer besonders zu berücksichtigen, die für einen Kaufmann im Ausland vordringlich waren. Der Unterricht in modernen Fremdsprachen wurde einem Franzosen und einem Engländer anvertraut. Um den Lateinunterricht einzuschränken, entschied man sich im Jahre 1903 dafür, zu dem Lehrplan für Reformrealgymnasien überzugehen. Im selben Jahr wurde Stenographie-Ünterricht eingeführt, wozu später noch ein Kursus in kaufmännischer Buchführung und Korrespondenz hinzukam.

Am 13. November 1904 wurde das Grundstück an der Ecke Virreyes (Jose Hemández) und Cuba, auf dem unsere Goethe-Schule steht, für 40.157,88 Pesos gekauft.

In all diesen Jahren, über die wir uns in einem raschen Überblick orientiert haben, war Herr Christian Hansen der Spiritus rector des Schulvereins gewesen. Im Jahre 1850 in Altona geboren, war er als junger Mensch zuerst nach Uruguay und dann nach Argentinien gekommen, wo er Geschäftsführer des Hauses Peuser wurde. In seinem großen Haus an der Jose Hernández und Moldes, das für eine Familie mit sieben Kindern eben groß genug war, wurde der Plan gefasst, eine deutsche Schule in Belgrano zu gründen, und aus seinem Freundeskreis ging der erste Schulvorstand hervor. Er verstand es, Menschen zur Mitarbeit zu gewinnen und die nicht immer genügend rege Gebefreudigkeit anzuregen. Allerdings ging er selbst mit gutem Beispiel voran. Selbst in seinem letzten Lebensjahr, als ihm seine schwere Krankheit nicht mehr das Ausgehen erlaubte, hat er die Vereinsarbeit nicht aufgegeben und die Vorstandssitzungen in seinem Haus abgehalten. Trotz seiner betont deutschen Einstellung, die richtunggebend für die Belgrano-Schule war, hat er seinen Kindern den Grundsatz eingeprägt, sie hätten zuerst gute Argentinier und dann Deutsche zu sein. Wie hoch er Schulbildung einschätzte und wie väterlich fürsorglich er sein Dienstpersonal behandelte, geht daraus hervor, dass seine Töchter die Köchin und die Dienst-mädchen im Lesen und Schreiben unterrichten mussten. Die deutschen Lehrer sind häufig zu Gast bei ihm gewesen und gewöhnlich hat eine Lehrerin in seinem Hause gewohnt.

Als man im Jahre 1904 ein Grundstück kaufte und eine Schule zu bauen beabsichtigte, war sich Christian Hansen darüber klar, dass diese Aufgabe die Möglichkeiten des Schul-vereins überstieg und der Plan des eigenen Gebäudes für die höhere Knabenschule mit ihren hundert Schülern zu ehrgeizig war. Er hatte den Kauf und die Bauabsichten nur darum befürwortet, weil ihm die Lösung vor Augen stand, seine Schule mit der höheren Mädchenschule zu vereinen, die seit 1895 in Belgrano bestand. Fräulein Marie Liebau, die Direktorin der Mädchenschule, hatte sich mit dem Vorschlag, den er ihr in diesem Sinne machte, einverstanden erklärt.

Zu dem Kauf des Grundstücks hatten 28 Vereinsmitglieder, die es verdienen, hier genannt zu werden, 47.500 Pesos beigesteuert: Adolf Lutz, August Parcus, Wilhelm von Sanden, Theodor Classen, Jakob Kade, H. von Freeden, Christian Hansen, P. Bauer, Curt Berger, Adolf Breyer, Ludwig Darmstädter, Ferdinand Duckwitz, Theophil Eppens, Enrique Fuhrmann, Max Hegemann, Ricardo Hauser, Emilio Heine, Julius Hosmann, Nicolás Kamm, G. Krug, A. Leinau, K. F. Mayer, Otto F. Melchers, Federico Schelling, G. Zueblin, August Nellen und Carlos Toenny.

Fräulein Liebaus Höhere Mädchenschule

Dass die Goethe-Schule gebaut wurde, ist das Verdienst Christian Hansens und Marie Liebaus.

Fräulein Liebau war im Jahre 1889 nach Argentinien gekommen als Hauslehrerin der Familie Dörtzenbach. Zu Lilly und Frieda Dörtzenbach kamen bald Töchter anderer deutscher Familien hinzu und schon 1892 hatte sich ihr Schülerkreis zu einer Gruppe von siebzehn Mädchen erweitert, so dass ihr die Dörtzenbachs ein Gartenhaus zur Verfügung stellten. Die bereits in verschiedene Klassen gegliederte kleine Mädchenschule, an der zwei Lehrerinnen unter Leitung von Fräulein Liebau unterrichteten, wurde 1895 von den argentinischen Behörden als Privatschule anerkannt. Zwei Jahre später wurde das Gartenhaus zu klein für die vielen Schülerinnen und Fräulein Liebau mietete ein Haus Ecke Pampa und Amenabar.

Da noch eine Anzahl ihrer Schülerinnen lebt, können wir uns nach ihren Berichten eine Vorstellung davon machen, was Fräulein Liebau als Lehrerin und Schulleiterin für ihre Mädchen bedeutet hat (in den ersten Jahren, bis zur Gründung der deutschen Knabenschule, hat sie auch einige Jungen unterrichtet). Alle alten Schülerinnen stimmen darin überein, dass man sie bei allem Respekt vor ihrem Wissen und pädagogischen Können als eine mütterliche Freundin ansah, der man auch persönliche Probleme anvertrauen konnte. “Fräulein Liebau”, heißt es in einem Bericht, “wurde von all ihren Schülerinnen geliebt und verehrt. Ihre Autorität wurde ohne Strenge und Strafandrohungen anerkannt. Sie war eine Lehrerin par excellence, voll Güte und Würde, erfüllt von ihrer Lebensaufgabe, zu der sie zweifellos berufen war.”

So hat die deutsche Jugend in Belgrano das Glück gehabt, dass sich zwei ausgesprochene Persönlichkeiten ihrer angenommen haben: Marie Liebau als verständnisvolle und kenntnisreiche Lehrerin und Christian Hansen als tatkräftiger Organisator, der einen Verein zu gründen und zusammenzuhalten und eine Schule zu bauen und mit allen Problemen, die dabei auftauchten, fertig zu werden verstand.

Die Goethe-Schule wird gebaut

Zweieinhalb Jahre vergingen, bis auf dem Grundstück, das der Deutsche Schulverein Belgrano im November 1904 gekauft hatte, ein halbfertiges Schulhaus stand, das von der Knabenschule bezogen werden konnte. Der Bau kostete bis zum Jahre 1907 rund 162.500 Pesos, viermal soviel als das Grundstück gekostet hatte. Die Vereinsmitglieder mussten neue Opfer bringen. Christian Hansen regte ihren Ehrgeiz an, in der Förderung des Baus nicht hinter anderen zurückzubleiben, indem er ein Stammbuch anlegte, nach dem jeder wohlhabende Schülervater die Kosten einer Tür oder eines Fensters übernahm: Ein Stahlplättchen hielt den Namen des Stifters fest, so dass noch heute mancher Goetheschüler auf einer Tür oder einem Fenster den Namen seines Urgroßvaters lesen kann.

Obwohl die Regierung des Deutschen Reichs einen Zuschuss von 4.000 Mark zu den Baukosten zahlte und die deutschen Firmen und Banken sich an den Stiftungen mit ansehnlichen Beträgen beteiligten, kam auf diesem Wege nur etwas mehr als ein Viertel der erforderlichen Summe zusammen. Man veranstaltete also Feste, bei denen die Klassenzimmer, von neunhundert elektrischen Birnen beleuchtet, “durch die sinnige Hand einer regen Damenkommission, unter dem Ehrenpräsidium von Frau Generalkonsul von Sanden in eine Flucht von Festsälen verwandelt worden waren.” Die Damenkommission organisierte auch “musikalisch-dramatische Abendunterhaltungen.” Trotzdem musste man eine Hypothek in der Höhe von 70.000 Pesos aufnehmen.

Die Pläne für den Schulbau stammten von den Architekten L. Siegerist und E. Meyer, die auf den größten Teil ihrer Honorare verzichtet hatten; Professor Dr. Wilhelm Keiper, der Direktor des argentinischen Instituts für die Ausbildung von Lehrern an höheren Schulen (Instituto National del Profesorado Secundario), hatte die Pläne begutachtet. Da damals noch an Koedukation nicht zu denken war —in Argentinien noch weniger als in Deutschland – waren Knaben— und Mädchenschule getrennt voneinander in den beiden Flügeln des Gebäudes untergebracht, die durch den Mittelbau der Turnhalle, die zugleich als Festsaal diente, miteinander verbunden waren. Zu der Feier der Grundsteinlegung am 17. Juni 1906 erschienen Vertreter der Reichsregierung und der argentinischen Behörden, der Bürgermeister von Belgrano und deutsche und argentinische Journalisten. Eine Urkunde mit einer Übersicht über die Geschichte des Schulvereins wurde in den Grundstein versenkt. Am 25. Februar 1907 wurde die Knabenschule eingeweiht, im Juni die Mädchenschule, dagegen reichten, trotz einer Spende von Gurt Berger in Höhe von 10.000 Pesos, die Mittel zunächst nicht aus, um die Turnhalle fertigzustellen.

Auch der innere Ausbau der Schule machte Fortschritte: Als Unterrichtsziel wurde die “Prüfung für die wissenschaftliche Befähigung zum Einjährig-Freiwilligen Militärdienst” ins Auge gefasst. Damit war die Ausrichtung des Lehrplans festgelegt. Das Grundproblem einer Auslandsschule besteht ja darin, dass sie zwei Herren dienen muss: dem Land, in dem die Mehrzahl ihrer Schüler geboren ist und ihr Leben verbringen wird, und dem Heimatland ihrer Eltern. Eine gleichmäßige Berücksichtigung der Interessen beider Länder ist nicht möglich. Wie man kaum zwei Sprachen vollkommen beherrschen kann, wird man auch jungen Menschen kaum die Kultur zweier Völker im selben Umfang vermitteln können. Die Belgrano-Schule war von Anfang an als deutsche Schule in Argentinien geplant worden. Man begnügte sich lange Zeit mit einem Mindestmaß an spanischem Sprachunterricht und ein wenig argentinischer Erdkunde als Zugeständnissen an die argentinische Umwelt. Dass man bei der Planung und Lehrplangestaltung den Blick auf Deutschland richtete, ist aus der geschichtlichen Situation heraus zu begreifen: Der Aufstieg des Deutschen Reiches hatte das Selbstbewusstsein der Deutschen im In- und Ausland gestärkt und ließ manchen Auswanderer an Rückkehr und eine Laufbahn der Kinder in Deutschland denken.

Die erste Abschlussprüfung der Untersekunda, die den Absolventen das Recht gab, als Einjährig-Freiwillige im deutschen Heer zu dienen, fand vom 3. bis zum 11. Dezember 1906 unter dem Vorsitz des deutschen Gesandten Herrn von Waldhausen an der Belgrano-Schule (noch im alten Gebäude) statt; alle fünf Kandidaten bestanden.

Wenn man sich den Lehrplan der Schule und die Stundenverteilung im ersten Jahrzehnt von 1897 bis 1907 ansieht, muss man sagen: diese Anfangsjahre waren eine idyllische Zeit. Von den 21 bis 27 Wochenstunden der drei ersten Schuljahre konnte man noch ein Drittel (acht) dem deutschen Sprachunterricht widmen; an den 31 Wochenstunden der sechs höheren Klassen war der Spanischunterricht nur mit drei Stunden beteiligt. Wenn man um halb acht Uhr morgens mit der Schule anfing, war man um 12 Uhr mittags fertig; im Winter verschob sich die Unterrichtszeit um eine halbe Stunde auf 8 bis 12:30Uhr.

Die Schülerzahl war im Jahre 1904 auf 100 gestiegen und erreichte 1906 die Rekordziffer des ersten Jahrzehnts von 114. Auf die zehn Klassen —seit 1904 gab es als Wachstumsspitze eine Obersekunda— verteilte sich diese Gesamtzahl so, dass der stärkste Jahrgang 19 und der schwächste 2 Schüler zählte. Dem Lehrerkollegium, das bis zum Jahre 1907 Direktor Mayer unterstand, gehörten 1907 elf Studienräte und Volksschullehrer an, die von den Vertrauensmännern des Schulvereins in Deutschland und der Schweiz engagiert wurden. Da die meisten von ihnen nicht auf die Rückkehr in den heimischen Schuldienst mit den Vorteilen einer Pensionierung verzichten wollten, schieden jedes Jahr einige Lehrer aus, die ersetzt werden mussten. Außerdem erwiesen sich nicht alle, die von den Vertrauensmännern empfohlen wurden, da sie ein gutes Examen gemacht und sich in der Unterrichtspraxis bewährt hatten, als tauglich für den Auslandsschuldienst. Ohne den Halt an der vertrauten Umgebung geriet zuweilen ein junger Mensch aus dem Gleichgewicht, und manchem neuen Lehrer fiel es schwer, sieh auf die deutsch-argentinische Jugend einzustellen, die recht verschieden von der reichsdeutschen ist: lebhafter, rascher im Auffassen, aber weniger beharrlich. Zum Glück fühlten sich andere in der neuen Umgebung so wohl, dass sie ihre Verträge erneuerten und unter Umständen für immer im Lande blieben. Für jede Auslandsschule ist das Gleichgewicht zwischen Lehrern, die mit Schule und Umgebung vertraut sind, und frischem Nachwuchs, der etwas von der Lebensluft der Heimat mitbringt, von wesentlicher Bedeutung.

Zweifel und Unsicherheit: Festhalten am deutschen Programm oder Anpassung an das argentinische Schulwesen?

Die idyllischen Zeiten sind mit dem ersten Jahrzehnt des Bestehens der Schule zu Ende gegangen. Im Jahresbericht vom 26. März 1909 taucht zum ersten Mal das Problem auf: Kann man es den Schülern, die in Argentinien studieren wollen, zumuten, dass sie in der Obertertia und Untersekunda nach einem deutschen Programm unterrichtet werden und sich privat auf die Prüfungen des ersten und zweiten Jahres nach dem Lehrplan des argentinischen Nationalkollegs vor bereiten müssen?

Zunächst ist man noch optimistisch: “Die Erfahrung der letzten Jahre hat uns gezeigt, dass Schüler unserer Anstalt… das primer año am Schlusse der Obertertia und das segundo año am Schlusse der Untersekunda bei einer verhältnismäßig geringen Vorbereitung (ein, höchstens zwei Monate) gut bestanden haben”, heißt es in dem Jahresbericht vom 20. März 1909. Im nächsten Jahr ist man schon kleinlauter geworden: “Mehr denn je machte sich der Umstand bemerkbar, dass viele Schüler der oberen Klassen unsere Anstalt verließen, um in das Colegio Nacional überzutreten; diese dadurch in den höheren und am meisten zahlenden Klassen entstehenden Lücken erschweren eine Fortführung der Schule in der bisherigen Weise ungemein. Da auch von vielen Eltern der Wunsch geäußert worden ist, durch Anschluss der oberen Klassen der Schule an das Colegio Nacional unseren Knaben länger die Möglichkeit zu bieten, den Unterricht an unserer Anstalt zu gemessen, hat der Vorstand sich eingehend mit dieser Frage beschäftigt und versucht, Mittel und Wege zu finden, welche das gewünschte Ziel erreichen lassen ohne dabei den echtdeutschen Charakter unserer Schule in Frage zu stellen.”

Die radikalste Lösung des Problems, wie man den Schülern der Belgrano-Schule den Anschluss an das Nationalkolleg erleichtern könnte, wäre die Übernahme des Lehrplans der höheren Schulen des Landes für die beiden Oberklassen, Obertertia und Untersekunda, gewesen oder, um den landesüblichen Ausdruck zu gebrauchen, die Inkorporation der Oberstufe. Das wäre freilich einem Verzicht auf den “echtdeutschen Charakter” der Schule gleichgekommen. Darum kam nur der Mittelweg in Frage — falls man nicht nach der anderen Richtung hin radikal reagieren und jedes Zugeständnis ablehnen wollte — und dieser Mittelweg lief darauf hinaus, durch zusätzlichen spanischsprachigen Unterricht die Vorbereitung auf die Prüfungen des ersten und zweiten Nationalkolleg-Jahres zu erleichtern. Nach dem “Schulbericht” vom 21. März 1911 macht die Anpassung der Lehrpläne an die Landesverhältnisse “eine ausgedehntere Pflege der argentinischen Geschichte und Geographie. .. und einen Repetitionskursus in Arithmetik und Geometrie in spanischer Sprache notwendig.” Den um den deutschen Charakter der Schule besorgten Eltern versichert man, dass man keineswegs an eine völlige Umstellung denkt, sondern nur an eine geringfügige Modifikation der “Lehrpläne und Lehrziele”, die übrigens nur die oberen Jahrgänge, aber nicht die ersten sechs Schuljahre betreffe, deren Programm unverändert bleibe. Man entschuldigt sich fast, dass man dem Spanischen mehr Raum gönnt als bisher: “Eine stärkere Berücksichtigung der Landessprache im Schulbetrieb ist vom praktischen Standpunkte aus nur zu begrüßen, insbesondere wenn sie dann einsetzt, wenn die Schüler die deutsche Sprache mündlich und schriftlich mit einiger Sicherheit handhaben.” Unter Umständen wird man es in Kauf nehmen müssen, dass der Unterricht in Französisch später beginnt und in den modernen Fremdsprachen weniger hohe Anforderungen gestellt werden. “Das sprachliche Ideal der deutschen Schulen in Argentinien darf nicht in der Vielsprachigkeit, sondern in der gründlichen Ausbildung im Deutschen und Spanischen liegen.”

Die Zugeständnisse, die man laut Jahresbericht vom März 1911 den Eltern gemacht hat, die ihre Kinder, während sie die Obertertia und Untersekunda der Belgrano-Schule besuchen, auf die Prüfungen des ersten und zweiten Nationalkolleg-Jahres vorbereiten wollen, erweisen sich schon im nächsten Jahr als unzureichend. Der nächste Schulbericht stellt fest, dass der Misserfolg der Obertertianer in den Prüfungen des ersten und zweiten Jahres nicht nur auf mangelnden Fleiß zurückzuführen ist — sie konnten sich den umfangreichen Stoff weder im Schulunterricht noch in zahlreichen Privatstunden aneignen. Die Lösung ist nach Ansicht des Schulleiters Dr. Hermann Bock die Ausarbeitung eines neuen Lehrplans, “der, den spanischen Unterricht von der Nona ab organisch aufbauend, bei geringerer Belastung der Schüler einen besseren Erfolg verspricht.” Mit Hilfe des neuen Lehrplans erreicht man, dass es in Zukunft möglich ist, die Schule bis zur Abschlussprüfung der Untersekunda zu besuchen und danach in das dritte Jahr eines Nationalkollegs einzutreten.

Doch man hat in den Jahren 1907 bis 1914 nicht nur einen Weg zu finden, wie man den Lehrplan der deutschen Realschule mit den Anforderungen des Nationalkollegs in Einklang bringen kann, sondern muss auch mit Schwierigkeiten anderer Art fertig werden. Es sind zum Teil Wachstumsschwierigkeiten. Nach dem Jahresbericht vom 1. März 1914 ist die Schülerzahl seit 1907 von 113 auf 160 gestiegen. Das bedeutet, dass man die Schule ausbauen, neue Klassenzimmer schaffen und Einrichtung und Lehrmittel verbessern muss. Im Jahre 1907 hat man ein chemisches Laboratorium und ein physikalisches Kabinett eingerichtet, im nächsten Jahr eine Bühne in der Turn — und Festhalle gebaut und elektrisches Licht angelegt und 1912 den Unterstock des Mitteltrakts ausgebaut und damit zwei neue Klassenzimmer gewonnen. Im Jahre 1914 übernimmt der Schulverein die Mädchenschule und hat in Zukunft für 343 Schüler und Schülerinnen zu sorgen. Die vereinigte Knaben-und Mädchenschule nimmt zugleich offiziell den Namen an, mit dem man sie bisher inoffiziell bezeichnet hat: Belgrano-Schule.

Der Schulleiter hat in den Jahren 1907 bis 1914 mehrmals gewechselt: Auf Direktor K. F. Mayer, der die Schule zehn Jahre lang betreut hat und Ende 1907 ausscheidet, folgt Dr. Schober, der 1911 nach Deutschland zurückkehrt und durch Dr. Hermann Bock ersetzt wird, Mitarbeiter Prof. Dr. Keipers am Instituto Nacional del Profesorado Secundario als Professor der Geschichte; Dr. Bock arbeitet im Einvernehmen mit Schulvorstand und Lehrerkollegium den neuen Lehrplan aus, von dem im Zusammenhang mit der Übereinstimmung des deutschen Realschul — und des argentinischen Nationalkollegprogrammes die Rede war. Sein Nachfolger wird im Jahre 1913 der Rektor der Deutschen Schule in Rosario Dr. R. Gabert, der über die Kriegsjahre hinweg bis 1922 im Amt bleibt, was, besonders nach einer Zeit häufigen Wechsels, im Interesse der Schule liegt.

In diesen Jahren, die die zweite Etappe in der Geschichte der Schule darstellen, verliert der Vorstand seinen Spiritus rector und die Mädchenschule die vorbildliche Lehrerin und Vorsteherin, der sie ihr Entstehen verdankt. Am 19. Februar 1909 stirbt Christian Hansen und am 20. August 1914 Marie Liebau.

Was der Nachruf des Schulvereins für Christian Hansen ausspricht, ist gewiss das Empfinden aller derer gewesen, die an der Belgrano-Schule Anteil nahmen: “Die letzten zwölf Jahre dieses wackeren, unverdrossenen Vorkämpfers unserer deutschen Bildungsbestrebungen sind so eng mit der Gründung und Entwicklung unseres Vereins und unserer Schule verbunden, dass der Schmerz seiner Familie unser eigener ist.” Dass er mit ganzem Herzen an der deutschen Jugend gehangen hat, die er betreute, geht aus einer Äußerung hervor, die der Schulleiter Dr. Schober in dem Nachruf der Deutschen La Plata Zeitung mitteilt: Er konnte sich nicht entschließen, während seiner schweren Krankheit, solange er noch bewegungsfähig war, die Schule noch einmal zur Unterrichtszeit zu besuchen, da er sich dem Abschiedsschmerz nicht gewachsen fühlte: «Beim Anblick von soviel jungem, frischem Leben würde mir das Herz 2erspringen.”

Fräulein Liebau starb, kurz bevor laut Abmachung mit dem Vorstand ihre Mädchenschule vom Deutschen Schulverein Belgrano übernommen werden sollte. Ihre Schülerinnen haben ihr ein dankbares Andenken bewahrt, und die ältere Generation der mit der Schule verbundenen Deutschen in Buenos Aires hat sie bis heut nicht vergessen, wie die Zuschriften zum 75. Jubiläum der Schule bezeugen.

Im übrigen verzeichnet die Chronik der Schule Gedenkfeiern anlässlich der Geburts- und Jahrestage grösser Männer und Ereignisse: Im Jahre 1909 wird der 150. Geburtstag Schillers festlich begangen. Die Jahrhundertfeier der Befreiung Argentiniens von der spanischen Kolonialherrschaft bringt den Schülern eine Woche Ferien im Mai und den Besuch einer Landwirtschaftlichen Ausstellung ein. Bei der Schulfeier am 25. Mai spricht der Direktor über einen der Ahnherren des Deutschtums in Argentinien, der zugleich einer der ersten Geschichtsschreiber am Rio de la Plata war: Utz Schmidl. Und im Jahre 1913 wird die hundertste Wiederkehr des Tages der Leipziger Völkerschlacht an der Belgrano-Schule mit der Egmont-Ouvertüre und der Aufführung der Ratsszene aus Heyses “Kolberg” gefeiert.

Willkommene Unterbrechungen der Alltags-Monotonie sind Ausflüge und Ferienfahrten: Im Jahre 1913 unternimmt die Schule die erste größere Ferienreise in die Sierras de Cordoba. Unterwegs besucht man die Estancia “Los Leones”, deren Verwalter, Eduard Seemann, ein Deutscher ist. Dann sind die 26 Schüler der Klassen Quarta bis Untersekunda und die fünf Lehrer im Eden-Hotel in La Falda bei Walther Eichhorn zu Gast, besteigen die Cumbre, den Cuadrado und andere Berge der Umgegend. Mit vier Wagen, die von Mauleseln gezogen werden, geht die Reise weiter nach La Cumbre. Man wandert sodann über Los Cocos nach Capilla del Monte und macht vom Victoria-Hotel aus einen Ausflug nach den “großen Mauern”, Los Paredones, und auf den Uritorco. Nach der Rückkehr stellt man aus photographischen Aufnahmen, Gedichten und Prosaberichten der Teilnehmer ein Heft zusammen, das in der Druckerei eines Schülervaters gesetzt und gedruckt wird und unter dem Titel “Cordoba-Reise 1913” in Buchform erscheint.

In den letzten Jahren vor dem ersten Weltkrieg sind die Lehrer aus Deutschland durch Vermittlung des Auswärtigen Amtes in Berlin verpflichtet worden. Die Abhängigkeit der Schule von Deutschland, die in der Ausrichtung des Lehrplans auf die Abschlussprüfung der Untersekunda nach deutschem Programm und in der Abnahme der Prüfung unter dem Vorsitz eines Delegierten der Reichsregierung zum Ausdruck kommt, wird dadurch noch verstärkt. Seit der Umgestaltung des Lehrplans im Jahre 1911 ist die Belgrano-Schule eine deutsche Realschule, die durch den Unterricht in Spanisch, argentinischer Geschichte und Erdkunde, Geometría und Aritmética ihren Schülern die Vorbereitung auf die Abschlussprüfung der argentinischen Volksschule und die Examina des ersten und zweiten Nationalkollegjahres zu erleichtern versucht.

Der erste Belgrano-schüler besteht die deutsche Reifeprüfung

Die Vorkriegszeit mit ihren Kaiser Wilhelm-Bärten, den Professoren im Gehrock und dem zackigen Auftreten vieler frischimportierter Reichsdeutscher im Ausland geht zu Ende. Die Deutschen, die nach dem Krieg herauskommen, sind anpassungsfähiger als die selbstbewussten Bürger des Deutschen Reiches in der wilhelminischen Epoche, aufgeschlossener und weitläufiger. Die Auslandsdeutschen stellen sich freilich nicht so rasch auf die neue Richtung ein, sie halten am Vergangenen fest.

Der Kriegsausbruch macht sich zunächst in einem Rückgang der Schülerzahl um rund zehn Prozent bemerkbar. Man hat das Schuljahr 1914 mit 182 Knaben angefangen, zu denen nach der Übernahme der Liebauschule 198 Mädchen hinzukommen. Die Zahl der Abmeldungen bis zum 1. November beträgt 37, so dass insgesamt 343 Schüler an der Doppelanstalt verbleiben. Erstaunlich ist es, dass noch im November 1914 neun Engländer und Engländerinnen, ebenso viele holländische Staatsangehörige, fünf Franzosen, fünf Belgier, drei Italiener und ein Nordamerikaner die Belgrano-Schule besuchen. Im Laufe der nächsten Jahre wird der durch die Abmeldungen entstandene Verlust wiederausgeglichen, und am Kriegsende ist die Schülerzahl sogar auf 399 gestiegen. Dagegen macht sich der unregelmäßige Eingang der Schulgelder immer störender bemerkbar, da sich die wirtschaftliche Lage der Deutschen in Argentinien stetig verschlechtert. Mit Spenden und Schenkungen ist nicht mehr zu rechnen, die kostenlosen Lieferungen von Lehrmaterial aus Deutschland fallen aus, nur die Reichsbeihilfe geht noch regelmäßig ein. So muss man die Rücklagen für den weiteren Ausbau der Schule für die laufenden Ausgaben verwenden. Und da der Ausfall an Schulgeldern immer grösser wird, schließt die Bilanz des Schulvereins im Jahre 1917 zum ersten Mal mit einem Defizit von rund 10.000 Pesos ab.

Lehrer, Schüler und Elternschaft nehmen an den Kriegs-ereignissen lebhaften Anteil. Turnlehrer Oskar Kraft ist im November 1914 beurlaubt worden, damit er in das deutsche Heer eintreten kann. Nach mehrmonatiger Gefangenschaft in Gibraltar gelangt er nach Deutschland, macht den Krieg an der Westfront mit und wird im Jahre 1915 schwer verwundet. Mehrere ehemalige Lehrer und der frühere Schulleiter Dr. Bock stehen im Felde. Der Jahresbericht vom 27. März 1916 meldet, dass die ersten Ex-schüler – Eberhard und Hans Walter von Lücken – gefallen und andere verwundet oder in Gefangenschaft geraten sind. An der Schule werden im Geschichts- und Deutschunterricht die Kriegsereignisse besprochen, und auf dem Schulhof wird, wie der Bericht hervorhebt, nur noch deutsch geredet. Auf dem Heimweg fechten die deutschen Jungen Schlachten mit argentinischen Straßenjungen aus, die ihnen Schimpfworte nachrufen.

Im Lehrerkollegium gibt es in den Kriegsjahren weniger Veränderungen als sonst, da die Verbindung mit Europa unterbrochen ist. Der regere Kontakt zwischen den Kollegen führt zu besserer Zusammenarbeit, die sich — wie es der Reichskommissar bei den Schlussprüfungen, Prof. Dr. Keiper, anerkennt — in dem steigenden Leistungsniveau der Schüler äußert. Der Schulleiter Dr. Gabert kommt, was selten der Fall ist, mit seinen Lehrern ebenso gut wie mit dem Vorstand aus.

Als er später nach Deutschland zurückkehrte und mit seiner Frau eine Mädchenschule und ein Pensionat in Bad Pyrmont eröffnete, ist er stets mit Buenos Aires und der Belgrano-Schule in Verbindung geblieben und hat im Gespräch mit Besuchern immer von Argentinien geschwärmt. Besonders wusste er die patriarchalischen Zustände an den deutschen Schulen zu rühmen, wo Vorstandsmitglieder, Lehrer und Schulleiter sich wenigstens einmal in der Woche in einem deutschen Bierlokal zum Skatspielen trafen (in Belgrano im “Ciervo de Oro”, dem früheren Schullokal).

Zum Glück für die Schule ist er in diesen patriarchalischen Vergnügungen nicht so weit aufgegangen, dass er den Ausbau der Real- zur Oberrealschule darüber versäumt hätte. Unter Dr. Gabert findet an der Belgrano-Schule die erste deutsche Reifeprüfung statt. Vom Jahre 1917 an wird die Oberstufe aufgebaut, indem man jedes Jahr eine neue Klasse einrichtet, bis die Mittelschule zur höheren Schule aufgestockt worden ist: 1917 wird die Obersekunda, 1918 die Unterprima, 1920 die Oberprima durchgeführt. Und im Jahresbericht vom 31. März 1922 heißt es: “Der Oberbau der Knabenschule, also die Oberrealschulklassen Obersekunda bis Oberprima, wurden, wenn auch mit wenigen Schülern, durchgeführt, und mit Genehmigung der Reichsbehörde ist im Berichtjahr zweimal die Reifeprüfung abgehalten worden (die erste gehörte eigentlich noch zum vorhergehenden Schuljahr). Das Ergebnis war überall sehr befriedigend. Die Prüfungsakten wurden nach Deutschland geschickt; für die erste Prüfung kam die anerkennende Bestätigung bereits zurück, für die zweite erwarten wir sie für die nächste Zeit. Es handelt sich hier um ein sehr bedeutungsvolles Ereignis für unsere Schule und zugleich für das gesamte deutsche Schulwesen am La Plata… Eine besonders wichtige Seite dieser Weiterbildung unserer Schule zur Vollanstalt sehen wir auch darin, dass aller Wahrscheinlichkeit nach hierdurch auch die brennende Frage, wie unsere Kinder die mit dem argentinischen Schulwesen verbundenen Berechtigungen erwerben könnten, ohne den deutschen Schulen und ihrem Einfluss entzogen zu werden, bald gelöst wird. Wie auch aus den Tageszeitungen bekannt geworden ist, sind seit längerer Zeit Verhandlungen zwischen Argentinien und Deutschland angebahnt zwecks gegenseitiger Anerkennung der höheren Schulen und ihrer Berechtigung zum Universitätsstudium. Unser Abiturientenexamen bekäme dann dieselbe Berechtigung wie das Bachillerato der argentinischen Nationalkollegien. Damit würden dann alle die anderen Examina vom sexto grado bis zum quinto año fortfallen.” Der erste Abiturient der Belgrano-Schule war Alfred von Metzen aus Montevideo.

Leider sind die Hoffnungen auf Anerkennung der deutschen Reifeprüfung durch die Erziehungsbehörden des Landes und auf Zulassung der Abiturienten der Belgrano-Schule zum Universitätsstudium in Argentinien nicht in Erfüllung gegangen. Die Frage, wie man den deutschen Lehrplan mit den Interessen der Schüler in Einklang bringen soll, die das Bachillerato machen wollen, ist niemals gelöst worden.

Dagegen gelingt es, in den Kriegs- und Nachkriegsjahren den Lehrstoff und die Lehrmethoden vor allem in der Knabenschule zu aktualisieren. Der Geschichtsunterricht wird “bis zur Gegenwart, mit quellengeschichtlicher Vertiefung und stärkerer Berücksichtigung der außerdeutschen Geschichte» fortgeführt. Außer den Klassikern und dem einem oder anderen Romantiker werden im Deutschunterricht gelegentlich auch Werke neuerer Dichter, z. B. Freytags “Journalisten” oder Richard Wagners “Meistersinger von Nürnberg”, gelesen. Der Lehrplan für die Mädchenschule wird mehrmals geändert und zunächst dem preußischen Programm für höhere Mädchenschulen und später den Plänen der Knabenschule (im Hinblick auf den geplanten Übergang der Schülerinnen der ersten Klasse in die Obersekunda) angeglichen. Da man der Meinung ist, dass die erste Klasse keinen rechten Abschluss der Mädchenerziehung darstellt, richtet man “Selektakurse” ein als Ersatz für die fehlende Oberstufe. Im Jahre 1915 werden u. a. folgende Themen behandelt: Deutsche Literatur der Moderne, Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, Deszendenzlehre, Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts. Als man später auch im Mathematikunterricht höhere Anforderungen stellt, beschweren sich einige Mütter. Auf ihren Protest: “Wozu brauchen unsere Töchter Mathematik? Wir haben das alles früher auch nicht gelernt!” antwortet der Schulleiter: “Materieller Besitz der Eltern sichert heute weniger denn je den Kindern eine sorgenfreie Zukunft… Eine Schulbildung, die alle — auch die Mädchen — befähigt, sich selbst den Lebensunterhalt zu verdienen, bleibt das Beste, was die Eltern ihren Kindern mitgeben können.”

Während der Kriegsjahre entwickelt sich die Belgrano-Schule zu einem Mittelpunkt des deutschen Vereinslebens: Die Singakademie hält hier ihre Proben und der Wissenschaftliche Verein seine Sitzungen ab, der Frauenverein tagt hier, und die evangelische Gemeinde verlegt ihre Gottesdienste in den großen Saal. Die deutschen Schulen schließen sich 1917 zu einem Deutschen Schulverein für Buenos Aires und Umgegend zusammen, in dem jede Schule mit zwei Vorstandsmitgliedern und dem Direktor vertreten ist. Unter dem Vorsitz Prof. Dr. Keipers werden hier Schulfragen allgemeinen Interesses besprochen. An der Bel-grano-Schule festigt sich der Zusammenhalt der Ex-schüler: Im Jahre 1919 wird ein “Verein ehemaliger Schüler und Schülerinnen der Belgrano-Schule” gegründet.

In den letzten Kriegsmonaten wird auch Buenos Aires von einer Grippe-Epidemie heimgesucht, so dass die Schule auf Anraten Aires Arztes Dr. Brinckmann für vier Wochen geschlossen wird. Als mit dem Ende des Krieges die Verbindung mit Europa wiederhergestellt wird, setzt ein lebhafter Post- und Paketverkehr nach Deutschland ein: Die Auslandsdeutschen bemühen sich, die Not in Deutschland zu lindern. Die Mädchen schließen sich unter Leitung der Handarbeitslehrerin zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammen, in der genäht wird und Kleider ausgebessert werden, die man dem Frauenverein zur Weiterbeförderung nach Deutschland übergibt.

Deutschargentinische Kriegsteilnehmer, die nach Buenos Aires zurückkehren, halten Vorträge in der Schule. Die Auslandsdeutschen möchten den Krieg, den sie nicht mitgemacht haben, zum mindesten im Geiste nacherleben. Das Interesse ist um so reger, je höher der militärische Rang und die Bedeutung des Vortragenden ist. So füllt sich der große Saal, wenn Fregattenkapitän Pochhammer über “Graf Spees letzte Fahrt” spricht oder General Litzmann über die großen Ereignisse an der Ostfront.

Und nachdem man in der Kriegszeit weder Feste gefeiert noch Ferienfahrten unternommen hat, holt man nun das Versäumte nach: So wird der fünfundzwanzigste Geburtstag der Schule im Jahre 1922 mit einem “Bazarfest” und der Einweihung der nun endgültig fertiggestellten Tum- und Festhalle gefeiert. Im nächsten Jahr findet auch wieder eine Ferienreise statt, deren Ziel diesmal die Sierra de Tandil ist, wo man bei Herrn Richter im Manantial-Hotel einkehrt.

Die Ära Keiper

In den schwierigen zwanziger Jahren, als es zu einer brennenden Frage wird, ob die Belgrano-Schule nicht doch den argentinischen Lehrplan für Nationalkollegs übernehmen und ein Colegio Incorporado, eine argentinische Schule mit zusätzlichem Deutschunterricht, werden soll, hat der Vorstand das Glück, einen neuen Direktor zu finden, der nach der Rückkehr Dr. Gaberts nach Deutschland, im Jahre 1922, Schulleiter wird und bis 1932 im Amt bleibt. Mit seiner klaren Vernunft, seiner reichen pädagogischen Erfahrung und der Kenntnis des Landes und der Menschen, die er einer achtzehnjährigen Tätigkeit in Argentinien verdankt, ist er ein Lotse, dem man in kritischen Situationen das Steuer anvertrauen kann. Im Jahre 1904 ist er als Direktor des Instituto National del Profesorado Secundario ins Land gekommen, einer Art Hochschule für die Ausbildung von Lehrern an höheren Schulen, an der sowohl Philosophie und Pädagogik wie die spezielle Methodik der einzelnen Fächer gelehrt wird. Zu seinen Mitarbeitern am Institut gehören Dr. Bock, der 1911 Direktor der Belgrano-Schule wird, und der Psychologe Felix Krüger, der spätere Nachfolger Wilhelm Wundts am Psychologischen Institut der Universität Leipzig. Seine außerordentliche Arbeitskraft ermöglicht es Prof. Keiper, an mehreren Stellen zugleich tätig zu sein. Als Direktor des Instituts für Lehrerbildung hat er nebenher als Dozent an der Philosophischen Fakultät der Universität Buenos Aires gewirkt, und als Schulleiter übernimmt ei zugleich Aufgaben, die ihm die Kulturabteilung der Deutschen Botschaft anvertraut.

Die Schule hat zu Anfang der Ära Keiper noch immer mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Viele Neueinwanderer aus Deuschland sind nicht in der Lage, das Schulgeld für ihre Kinder zu zahlen, so dass der Vorstand zeitweise 86 Freistellen oder Schulgeldermässigungen gewähren muss, was bei der Gesamtzahl von 461 Schülern den Ausfall von nahezu einem Fünftel der Schulgeldeinnahmen bedeutet.

Die Reichsbeihilfe, die in den Kriegsjahren eine Hilfe für den Schulverein bedeutet hat, schmilzt nun infolge der Inflation in Deutschland derart zusammen, dass der Vorstand im Jahre 1923 auf die Annahme verzichtet. Man ist im übrigen der Meinung, dass man in diesen Jahren der Not und der Verwirrung in der alten Heimat eher Deutschland helfen als Hilfe von ihm erwarten sollte. Die Schüler sammeln, zum Teil aus eigener Initiative, zum Teil auf Anregung ihrer Lehrer hin, Geld, gebrauchte Kleider, Schuhe und Wäsche für notleidende Kinder in Hamburg, Bremen und Berlin.

Dass sich das Verhältnis zwischen Deutschland, das bisher der gebende Teil gewesen ist, und den Auslanddeutschen, die daran gewöhnt sind, sich von den “Reichsdeutschen” helfen zu lassen, ganz offensichtlich umgekehrt hat, macht sich auch in anderer Hinsicht bemerkbar: Die deutsche Reifeprüfung steht in diesen Jahren bei den Deutsch-argentinern nicht besonders hoch im Kurs. Niemand denkt daran, seine Kinder nach Deutschland zu schicken. Wie es drüben aussieht, das kann man sich vorstellen, wenn man den abgerissenen und ausgehungerten Einwanderern aus Deutschland im Hafenviertel begegnet oder in Vereinen und Wohltätigkeitsorganisationen oder auf Beratungsstellen mit ihnen zu tun hat. Wenn aber niemand seine Kinder in Deutschland studieren lassen will, fragen die Eltern mit Recht: Was fangen unsere Jungen mit dem Abitur in Argentinien an? Weder Vorstand noch Schulleiter können auf diese Frage eine befriedigende Antwort finden. So hat die Schule im Jahre 1922 einen einzigen Abiturienten: Jörn Ols-hausen, im Jahre 1923 zwei und ebenso viele im folgenden Jahr. Lohnt es sich, dass die Schule 1923 offiziell als deutsche Oberrealschule “mit der Berechtigung zur Abhaltung der Reifeprüfung” anerkannt wird, wenn niemand besonderen Wert auf das Abitur zu legen scheint?

Wer in Argentinien studieren will, geht rechtzeitig – um kein Jahr zu verlieren – auf ein Nationalkolleg. “Rechtzeitig” bedeutet: spätestens nach Abschluss der Untersekunda, denn in der Obertertia und Untersekunda kann man sich zur Not noch auf die Examina als Externer an einem Nationalkolleg vorbereiten, um dann statt in die Obersekunda der Belgrano-Schule in das dritte Jahr einer argentinischen höheren Schule einzutreten. Die drei Klassen der Oberstufe unserer Schule werden im Jahre 1922 von 10, 1923 von 8 und 1924 von 13 Schülern besucht, und die letzte Ziffer ist nur darum so hoch (!), weil jetzt die Mädchen der ersten Klasse zum Teil in die Obersekunda übergehen.

Abgesehen von dem finanziellen Leerlauf, den dieser schwache Besuch der Oberklassen bedeutet, müssen sieh Eltern, Direktor und Lehrer allen Ernstes fragen, ob sie nicht besser daran tun, von dem bisher begangenen Wege abzuweichen, den argentinischen Lehrplan zu übernehmen und sich der Aufsicht der argentinischen Schulbehörden zu unterstellen, mit anderen Worten die deutsche Oberrealschule in ein Colegio Incorporado umzuwandeln.

Die Frage wird im Jahre 1928 auf Lehrerkonferenzen und Vorstandsitzungen in dem Sinne entschieden, dass man die Inkorporierung ablehnt Ein Colegio Incorporado würde zwar den Schülern, die eine argentinische Universität besuchen wollen, mit dem bachillerato die Berechtigung zum Studium vermitteln, wäre aber nicht mehr in der Lage, die deutsche Sprache in ihnen lebendig zu erhalten und sie in die deutsche Kultur einzuführen. Schließlich – argumentiert man – dürfe man nicht nur an die jungen Leute denken, die sich in Argentinien auf einen akademischen Beruf vorbereiten wollen, sondern auch an ihre Kameraden, die praktische Berufe ergreifen möchten, oder die Mädchen, die überhaupt nicht die Absicht haben, einen Beruf auszuüben.

Doch die Anzahl der Schüler, die in einer abgeschlossenen Oberrealschulbildung die beste Vorbereitung auf einen praktischen Beruf und auf das Leben sehen, ist seit 1922 nicht viel grösser geworden: Noch im Jahre 1927 zählt die Obersekunda nur sechs, die Unterprima acht und die Oberprima zwei Schüler. Die Lage ändert sich erst, als mit dem wirtschaftlichen Wiederaufstieg Deutschlands auch wieder ein Anreiz zum Studium und einer Berufslaufbahn in der alten Heimat geschaffen wird. Zwischen 1927 und 1932 steigt die Anzahl der Oberprimaner von zwei auf vierzehn an.

In den zwanziger Jahren ist die Oberstufe ein Zuschussbetrieb und die Mittelstufe kann sich nur halten, wenn die Schule eine sachgemäße Vorbereitung auf die argentinischen Examina garantieren kann. Zu diesem Zweck wird im Jahre 1923 der spanische Lehrplan der Klassen Nona bis Untertertia und der neunten bis dritten Mädchenklasse dem Plan der argentinischen Volksschule angepasst; bereits im Vorjahr hat man die Zahl der Spanisch-Stunden in der Untertertia, um die Abschlussprüfung der argentinischen Volksschule intensiver vorzubereiten, von neun auf zwölf Wochenstunden erhöht. Um es den Schülern der Untertertia und Untersekunda zu erleichtern, die Examina des ersten und zweiten Nationalkollegjahres als Externe am Colegio Nacional Bartolome Mitre abzulegen, werden die beiden Klassen ab 1927 in einen deutschen Zug (Abteilung A) und einen spanischen (Abteilung B) mit abweichendem Lehrplan, bis auf den gemeinsamen Deutsch- und Spanischunterricht, aufgeteilt. Die unbequeme und kostspielige Maßnahme wird zwei Jahre lang durchgeführt. Dann bietet sich von außen her eine Lösung für die Frage: Bachillerato oder Reifeprüfung? an.

Am 1. Januar 1927 übernimmt der Vorstand des Deutschen Schulvereins Belgrano die Germaniaschule, ein Colegio Incorporado, das bis zum Abschluss des zweiten höheren Schuljahrs (nach argentinischem Programm) führt, aber bis zum Bachillerato ausgebaut werden soll. Da der Rückgang der Schülerzahl der Germaniaschule ein Defizit in der Bilanz zur Folge hat, das der Schulvereins Vorstand zu decken hat, regt man eine Vereinigung des Oberbaus der Cangallo —und der Germaniaschule an, die im Jahre 1929 in Kraft tritt. Das aus den Oberklassen der Cangallo— und Germaniaschule gebildete Colegio Aleman Incorporado verfügt über genügend Schüler, um sich aus eigenen Kräften erhalten zu können. Damit ergibt sich zugleich eine Lösung für das Problem: Soll die Belgrano-Schule eine deutsche Schule bleiben oder ihre Inkorporierung beantragen? Es gibt nun für die deutsche Jugend in Buenos Aires zwei Möglichkeiten: die Reifeprüfung an einer deutschen Schule zu machen oder das Bachillerato an einer “inkorporierten” Schule mit Deutschunterricht und überwiegend deutscher Schülerschaft. Damit fällt die Notwendigkeit weg, an der Belgrano-Schule besondere Rücksichten auf die Schüler zu nehmen, die auf das Nationalkolleg übergehen wollen. Wer das Bachillerato anstrebt, wird in Zukunft nach der Untertertia und dem Examen des sechsten Grades die Schule wechseln und in das erste Jahr des Colegio Aleman Incorporado eintreten; dafür werden Germania- oder Cangalloschüler, denen daran gelegen ist, die deutsche Reifeprüfung zu machen, nach der Schlussprüfung der argentinischen Volkschule in die Obertertia der Belgrano-Schule übergehen. Wenn es mehr Interessenten für das Bachillerato gibt, was zunächst der Fall sein dürfte, so besteht die Aussicht, dass die Belgrano-Schule die Verluste an Schülern im Laufe der Zeit dadurch ausgleicht, dass es wieder mehr Anwärter auf ein Studium in Deutschland gibt, das die Folgen des verlorenen Krieges und des Vertrages von Versailles allmählich überwindet.

Nachdem der Kurs der Schule nun endgültig festgelegt ist, kann der deutsche Lehrplan verbessert und bereichert werden. Vermutlich hat die Schule niemals mehr Anregungen aller Art gegeben und die Schüler in so vielfältiger Weise gefördert wie in dem Jahrzehnt vor dem zweiten Weltkrieg. Zugleich besteht ein harmonisches Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern, das eine glückliche Mitte zwischen dem Autoritätsprinzip der Vergangenheit und der nicht immer erfreulichen Kameradschaftsbeziehung der neuen Zeit darstellt. Obwohl der Direktor der älteren Generation angehört, ist er kein Jupiter tonans mehr, sondern verschafft sich dadurch Respekt, dass er, im Bewusstsein seiner geistigen Überlegenheit, sich niemals zu Zornesausbrüchen oder Drohungen hinreißen lässt, sondern stets die Ruhe bewahrt und sachlich urteilt, wobei ihm noch zugute kommt, dass er die Gabe des rechten Wortes zur rechten Zeit hat. Er versteht es, seine Reden wirkungsvoll zu pointieren, indem er zum Beispiel eine Ansprache an die Abiturienten mit den Worten schließt, er hoffe, sie würden aus Goethe-Schülern zu Goethes Schülern werden (die Namensänderung der Schule im Jahre 1931 geht auf ihn zurück). Er hat mit seiner Rhetorik und der unbeirrbaren Vernünftigkeit zuweilen etwas Französisches an sich, wozu auch die bewegliche kleine Gestalt und der Spitzbart passen.

Zu den Bereicherungen des Lehrplans gehört die Einführung des Werkunterrichts, in dem Laubsäge- und Metallarbeiten, Figuren für Kasperle- und Puppentheater und im Laufe der Zeit immer kunstvollere Tischlerarbeiten hergestellt werden. In Physik, Chemie und Biologie geht man von der Theorie zum Experimentieren über. Eine Engländerin und eine Französin werden für Konversations- und Literaturunterricht engagiert. Die Mädchen erhalten Unterricht in Kunstgeschichte.

Für die Schüler der Oberstufe wird eine Debattierstunde eingeführt. In der Obersekunda und den beiden Abteilungen der Prima sind Zettelkästen angebracht worden, in die jeder Schüler seine Fragen, Anregungen und kritischen Bemerkungen zum Schulbetrieb einwerfen kann. Eine Schulzeitung “Die Brücke” wird gedruckt, die eine Verbindung zwischen Schule und Elternhaus, Lehrern und Schülern, Hüben und Drüben herstellen soll. Sie erscheint alle zwei Monate und erhält sich bald ohne Zuschuss. Es wird musiziert und Theater gespielt: Bayers “Puppenfee” wird in einer verkürzten Fassung auf dem Schulfest 1925 getanzt, eine Theatergruppe führt das Rüpelspiel aus dem “Sommernachtstraum” auf. Im nächsten Jahr singt der Schülerchor Rombergs Vertonung der Schillerschen “Glocke”. Bei einer Weihnachtsfeier werden Szenen aus Humperdincks “Hansel und Gretel” aufgeführt. Ein unternehmungslustiger junger Musiklehrer studiert Hindermiths Schuloper “Wir bauen eine Stadt” ein und veranstaltet musikalische Morgenfeiern an Sonntagen. Man hat noch Zeit für solche Nebenbeschäftigungen, die zuweilen anregender und bildender sind und ein wirksameres Mittel zu Weckung schöpferischer Kräfte in der Jugend darstellen als manche Hauptbeschäftigungen. Im Goethe Jahr 1932 tritt ein Schüler-Sprechchor bei der Feier in der Schule und der Veranstaltung im Teatro Cervantes auf, die von den deutschen Kulturvereinigungen organisiert wird. Die Schulfeste, die bisher ein notwendiges Übel gewesen sind, erhalten einen Leitgedanken und werden zu echten, farbenfrohen, kostümbunten Festen: Einmal feiert man ein “Jahrmarktsfest zu Plundersweilem”, ein anderes Mal ein Volkstrachtenfest “Aus deutschen Gauen”, ein drittes Mal wird der Rahmen weiter gespannt, das Motto lautet “Aus aller Welt”, dann wieder wird man lokalpatriotisch und veranstaltet einen “Jahrmarkt in Belgrano”, und einmal inspirieren die “Meistersinger” Eltern, Lehrer und Schüler zu einer “Nürnberger Festwiese”.

Auch innerhalb des Fachunterrichts macht man sich von alten Schemata frei: Die Zeiten, in denen die Deutschlektüre sich auf die Klassiker beschränkt hat, sind längst vorbei. Man muss auch nicht mehr Prüfungsaufsätze über Büchmann-Zitate schreiben, z.B. über das Thema “Fleiss und Arbeit sind die Flügel, so führen über Strom und Hügel”, sondern darf nun einmal die Goetheworte ausdeuten: “Amerika, du hast es besser / als unser Kontinent, das alte, / hast keine verfallene Schlösser / und keine Basalte. / Dich stört nicht im Innern / zu lebendiger Zeit / unnützes Erinnern / und vergeblicher Streit” und ein andermal das schöne Thema “Schau um dich — Schau in dich — Schau über dich”, als Richtschnur fürs Leben.

Man nimmt sich die Freiheit, die preußische Schulreform von 1924, deren Anreger, der preussische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung Otto Bölitz, im Jahre 1927 die Belgrano-Schule besucht und einer Reifeprüfung beiwohnt, nur soweit durchzuführen, als es mit den Aufgaben einer deutschen Auslandsschule vereinbar ist. Dagegen ist die “Ordnung der Reifeprüfung an den höheren deutschen Schulen im Ausland”, die vom deutschen Reichsministerium des Inneren ausgearbeitet worden ist, auch für die Belgrano-Schule verbindlich; sie tritt im Jahre 1929 in Kraft.

Einiges Kopfzerbrechen verursacht die Reform der Mädchenschule. Prof. Keiper regt an, dass für die Mädchen, die nicht studieren wollen, eine Frauenschule geschaffen wird, die sich an die erste Klasse anschließt und die Schülerinnen “für die häuslichen Aufgaben als Gattin und Mutter” in einem zweijährigen Lehrgang vorbereiten soll. Zu ihren Fächern gehören: Pädagogik, Haushaltungskunde, Gesundheitslehre, Kinderpflege, Hauswirtschaftliches Rechnen usw. Dagegen sollen die Mädchen, die die Reifeprüfung ablegen wollen, nach der ersten Klasse in die Obersekunda übergehen und zusammen mit den Jungen unterrichtet werden. Die Voraussetzung für diese Neureglung ist die Angleichung des Lehrplans für die unteren und mittleren Mädchenschulklassen an den der Knabenschule.

Mit der Frauenschule wird ein paar Jahre lang herumexperimentiert. Man kommt davon ab, dass sie nur auf den zukünftigen Hausfrauenberuf vorbereiten soll, und möchte Sprach-und Literaturunterricht, aber auch Mathematik und Naturwissenschaften in das Programm aufnehmen. Das zweite Jahr soll nach der Art einer Volkshochschule auf gebaut werden, die praktischen Fächer stehen nicht mehr im Mittelpunkt, sondern am Rande und werden in Form von freiwilligen Zusatzkursen durchgeführt. Im Jahre 1928 wird die Frauenschule “wegen Mangel an Schülerinnen” aufgegeben. Doch der Mangel an Schülerinnen ist wohl nur die Folge davon, dass man sich nicht recht klar darüber ist, was für Aufgaben die Frauenschule eigentlich erfüllen soll.

Auch in diesen Jahren wird der Ausbau der Schule fortgeführt: Im Jahre 1924 wird der Mittelteil des Gebäudes um ein Stockwerk erhöht. Man gewinnt damit zwei große neue Klassenzimmer und Raum für die Sammlungen und für praktische Schülerarbeiten in den naturwissenschaftlichen Fächern. Dagegen kann das großzügige Projekt eines modernen Schwimmbades nicht durchgeführt werden, da das Grundstück nach der Obligado hin, das der Vorstand zu diesem Zweck ankaufen will, von der Stadtverwaltung beschlagnahmt wird, damit die Straße — die Obligado — durchgebrochen werden kann.

Was der Schule noch fehlt, ist ein Sportplatz. Auf dem Schulhof, der in den Pausen kaum für die Schüler ausreicht, kann man in den Turnstunden allenfalls Freiübungen veranstalten. Zum Glück gibt es in der Nähe des Schulgebäudes noch einige stille Straßen, die man für einen Dauerlauf ausnützen kann, Bewegungsspiele werden an den Strand des Rio de la Plata verlegt, zum Rudern fährt man nach Tigre, wo der Verein Teutonia der Schule Boote zur Verfügung stellt. Die Sportnachmittage finden in verschiedenen Klubs der benachbarten Vororte statt. Vom Jahre 1924 an wird den Schülern der Oberklassen die Möglichkeit gegeben, Schieß-unterricht bei einem argentinischen Instruktionsoffizier zu nehmen, damit sie sich nach Erfüllung der Bedingungen für die Schützenausbildung mit 18 Jahren zum freiwilligen Heeresdienst melden können, aus dem sie nach drei Monaten als Offiziersaspiranten entlassen werden.

Nach dem Durchbruch der Obligado wird der Rest des Nachbargrundstücks nach der neuen Straße hin versteigert, und der Schulverein erwirbt das Terrain, das auf 520 qm reduziert worden ist (es kostet 46.000 Pesos, also mehr als das ganze Schulgrundstück im Jahre 1904 gekostet hat). Der Schulhof kann nun erweitert werden, was auch dem Turnunterricht zugute kommt.

Im Jahre 1931 hat die Schülerzahl der Germaniaschule derart abgenommen, dass eine Generalversammlung der Schulvereinigung den Beschluss fasst, die Schule aufzulösen. Im letzten Augenblick schalten sich die Eltern der Germaniaschüler und eine Gruppe von Ex-schülern ein, die es versuchen wollen, die Schule am Leben zu erhalten. Da sie einen eigenen Verein gründen, bleibt es dem Deutschen Schulverein Belgrano, der bisher zusammen mit dem alten Germania-Schulverein die Schule verwaltete, erspart, weiterhin das stetig wachsende Defizit decken zu müssen.

Dagegen bleiben die Verpflichtungen gegenüber dem Colegio Aleman Incorporado — später in Colegio Burmeister umgetauft — bis 1939 bestehen, insofern als der Deutsche Schulverein Belgrano für ein Defizit der Burmeister-Schule mitaufzukommen hat. Die finanzielle Entlastung durch die Auflösung der Verbindung mit der Germania-Schule ermöglicht es dem Vorstand, einer größeren Anzahl von Belgranoschülern Schulgeldermässigung oder erlass zu gewähren. Die Wirtschaftskrise des Jahres 1930 macht sich auch unter den Deutschen Belgranos bemerkbar: Ein Fünftel der Eltern ist nicht in der Lage, das volle Schulgeld zu zahlen.

Nachdem Professor Keiper bereits im Jahre 1931 auf Grund seiner Tätigkeit für den Kulturrat der Deutschen Botschaft als Schulleiter beurlaubt worden ist, tritt er 1932 endgültig von seinem Posten als Direktor zurück. Der Vorstand veranstaltet ihm zu Ehren eine Abschiedsfeier, an der das Lehrerkollegium der Belgrano- und Burmeisterschule und unter anderen Gästen der deutsche Gesandte, Minister Dr. von Keller, teilnehmen. In den zehn Jahren, die Professor Keiper für die Schule verantwortlich gewesen ist, hat sie nicht nur ihre endgültige Form angenommen und die Lehrpläne erhalten, die bis 1945 in Kraft geblieben sind — sie ist auch zu der größten deutschen Oberrealschule im Ausland herangewachsen.

Nur in einer Beziehung hat er sein Ziel nicht erreicht: Das deutsche Abitur ist von den argentinischen Behörden nicht als gleichwertig mit dem Bachillerato anerkannt worden und berechtigt infolgedessen nicht zum Studium an einer argentinischen Hochschule. Man kann zwar mit dem Reifezeugnis der Belgrano-Schule in Deutschland, der Schweiz, Österreich und Holland studieren, in Argentinien nehmen aber nur einige Fakultäten der Universität Buenos Aires: die Landwirtschaftliche und die Philosophische, und die Escuela de Ciencias Naturales, die Facultad de Química y Farmacia und die Landwirtschaftliche Fakultät der Universität La Plata Abiturienten unserer Schule als Studenten an.

Im Deutschen Schulverband, der Dachorganisation der deutschen Schulen in Buenos Aires und Umgegend, hat die nunmehr in Goethe-Schule umgetaufte Belgranoschule 1932 den Vorsitz. Dem Verband sind siebzehn Schulvereine angeschlossen, die über neunzehn Schulen mit 4223 Schülern verfügen.

Neue Zeiten – neue Probleme

Zu der Weimarer Republik haben die Deutschen in Argentinien kaum eine innere Beziehung gehabt. Die Auslanddeutschen haben sich im Grunde immer ein starkes und selbstbewusstes Deutschland gewünscht, an das sie sich anlehnen können. Für eine Republik, die Erfüllungspolitik trieb und pazifistische Ideale vertrat, haben sie kein Verständnis gehabt. Um so größere Hoffnungen hat man auf das neue Deutschland gesetzt, an dem man aus der Entfernung das Positive vergrößert und das Negative verkleinert sah. Die Wochenschau im Film und die Illustrierten brachten Bilder von den Großveranstaltungen, die mit der Meisterschaft eines Regisseurs, der Massen zu bewegen versteht, inszeniert waren. Man idealisierte im Ausland die “Bewegung”, die das ganze Volk zu erfassen schien, und hielt die Gerüchte über Judenverfolgungen oder Kriegsvorbereitungen für Verleumdung.

Aber wie gewöhnlich lassen sich nicht alle von der allgemeinen Begeisterung mitreißen, es gibt Zweifler und Ungläubige. So zerfällt die früher nur nach Stand und Besitz abgestufte Schicht von Auslanddeutschen, die die Schule erhalten, bald in mehr oder weniger antagonistische politische Gruppen: die überzeugten Anhänger des neuen Deutschland, die sich verpflichtet fühlen, auch im Ausland für ihre Überzeugung einzutreten; die Mitläufer, die den Anschluss nicht verlieren wollen, aber lieber im Hintergrund bleiben; die Desorientierten, die nicht wissen, ob sie dafür oder dagegen sein sollen; und die Gegner, die das neue Deutschland — aus politischen oder religiösen Gründen oder weil sie ganz einfach überzeugt sind, dass das Ganze ein böses Ende nehmen wird — mehr oder weniger entschieden bekämpfen. Zugleich ändert sich allmählich die Einstellung der Argentiner zu den Deutschen im Lande. Bisher hat man sie wegen ihrer Aufgeschlossenheit dem Gastland gegenüber im allgemeinen den Franzosen oder Engländern vorgezogen, die sich den Argentinern überlegen fühlen oder sich prinzipiell von ihnen abschließen. Man hielt die Deutschen für friedliche, arbeitsame Bürger, die man nicht wie die Nordamerikaner ihres Imperialismus wegen zu fürchten brauchte. Jetzt fängt man an, misstrauisch zu werden. Die Reden, die in Deutschland und Argentinien gehalten werden, hören sich gar nicht so friedlich an und werden womöglich in der einheimischen Presse noch vergröbert wiedergegeben. So halten es manche Argentiner für möglich, dass die Deutschen Patagonien erobern wollen.

Die Schulberichte dieser Jahre spiegeln die internen und externen Probleme wider, obwohl die Verfasser sich bemühen, sie zu verharmlosen. Da liest man zum Beispiel, dass Ende 1933 sechs Mitglieder des Schulvereins austreten, weil sie die politische Einstellung, die bei der Jahresschlussfeier zum Ausdruck kommt, nicht billigen können. Der Vorstand erklärt zwar zu seiner Verteidigung, dass er keinerlei politische oder konfessionelle Einstellung vertrete, will aber, wie er gleich darauf versichert, “die enge Verbundenheit mit dem deutschen Mutterland aufrechterhalten.” Eine Abwanderung von Schülern wird zwar durch Neuanmeldungen wiederausgeglichen, aber die Krise dauert an, wie der Bericht aus dem März 1934 zugibt. Bei der Schlussfeier des Jahres 1934 hält es der erste Vorsitzende für angebracht, der Begeisterung einiger Vereinsmitglieder einen Dämpfer aufzusetzen, indem er feststellt, dass nur fünfzehn Prozent der Schüler Reichsdeutsche, dreiundsiebzig Prozent Argentiner und der Rest Angehörige anderer Nationen sind und daraus die Folgerung zieht: “Wir halten daran fest, dass es nicht angängig ist, alles was im Volksleben gut und schön ist, restlos auf das Schulleben zu übertragen.” Was sich auch so formulieren lässt: Was in Deutschland möglich oder angebracht ist, lässt sich nicht ohne weiteres auf eine deutsche Auslandschule übertragen. Später ändert sich freilich die Zusammensetzung des Vorstands, und ein neuer Schulleiter trägt dazu bei, dass der vermittelnde Kurs wiederaufgegeben wird.

Dass die Schule trotzdem im alten Geist weitergeführt wird und keine politische Propaganda betreibt, ist das Verdienst der Lehrer, die entweder lange genug im Lande sind, um keine unvorsichtigen Experimente zu unternehmen, oder sich der neuen Umwelt rasch angepasst haben.

Die goldene Zeit, in der man mit einem einzigen Turnus auskommt und die Schüler den Nachmittag frei haben und sich nach Erledigung der Schularbeiten mit Liebhabereien beschäftigen, Sport oder Musik treiben, basteln oder lesen können, dauert an, und die Schule bietet im Unterricht und in freiwilligen Arbeitsgemeinschaften und Kursen Gelegenheit, technische, künstlerische oder wissenschaftliche Neigungen zu entwickeln und zu pflegen. Durch einen neuen Erweiterungsbau ist im Dachgeschoss ein Arbeitsraum für den Werkunterricht geschaffen worden, der mit Hobelbänken ausgestattet und so großzügig eingerichtet wird, dass jedem Schüler ein eigener Arbeitstisch und ein vollständiger Satz Tischlerwerkzeuge zur Verfügung stehen, Während die Jungen tischlern, machen die Mädchen im Handfertigkeitsunterricht Bast-, Leder, Holz-, und Tarsoarbeiten und lernen Buchbinden. Für Sportler gibt es über den Turnunterricht und die Spielnachmittage hinaus die Möglichkeit, zweimal in der Woche unter Aufsicht des Turnlehrers im Verein Teutonia zu rudern und an einem Jiu-Jitsu-Kurs teilzunehmen. In einer musikwissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft beschäftigt man sich mit dem deutschen Volks- und Kunstlied, mit der Geschichte der Sinfonie und der Oper; das Schülerorchester wirkt bei Morgenfeiern und Schul-konzerten mit. Mädchen und Jungen haben eine Volkstanzgruppe gebildet, und eine Spielschar wagt sich an klassische und moderne Stücke heran, z.B. an Shakespeares “Sommernachtstraum”, der in der Quinta der Familie von dem Bussche-Haddenhausen auf einer Waldwiese bei Mondschein aufgeführt wird, nach einer Vorbereitungsarbeit von acht Monaten; die Aufführungen des “Biberpelz” von Gerhart Hauptmann und des “Urfaust” von Goethe werden im Deutschen Klub und in Vereinssälen des Zentrums wiederholt. Von den Schulkonzerten werden manchem Hörer noch der Richard Strauß-Abend, die Händel-Feier, die Aufführung der “Kaffeekantate” von J. S. Bach und die Veranstaltung “Musik aus der Zeit Friedrichs des Großen” in Erinnerung geblieben sein. Die Deutsch und Musiklehrer bereiten die Schüler auch auf die Gastspiele der Deutschen Schauspielergesellschaft mit Werner Krauss, Käthe Dorsch und Eugen Klopfer vor und auf die Opern, die in der deutschen Spielzeit im Teatro Colon auf geführt werden. In Vorträgen und Kursen werden die deutsche Literatur und Philosophie der Gegenwart behandelt. Physikalische und chemische Arbeitsgemeinschaften verschaffen den naturwissenschaftlich Interessierten Gelegenheit zum Experimentieren. Man kann, wenn man Zeit und Lust hat, an einem Lehrgang für Kurzschrift teilnehmen, Latein lernen oder rhythmische Gymnastik treiben. Mehrfach besuchen deutsche Schriftsteller, die Südamerika bereisen, die Schule und lesen aus ihren Werken vor, so Hans Grimm, Josef Ponten und Siegfried von Vegesack. In den Winterferien werden Reisen nach Cordoba oder den Iguazú-Fällen organisiert, im Sommer Fahrten zum Nahuel Huapi und nach Chile, Auf der Reise nach Misiones besucht man auch deutsche Yerbapflanzer und besichtigt die Ruinen der Jesuitenreduktionen San Ignacio und Jesus. In den letzten Jahren vor dem Krieg wird ein Schüleraustausch mit Deutschland eingeleitet: Eine Anzahl Goetheschüler wird 1937 für ein halbes Jahr nach Deutschland geschickt und kommt am Anfang des nächsten Jahres mit einer Anzahl deutscher Kameraden zurück, die dann ein halbes Jahr die Goethe-Schule besuchen.

Die Jugendorganisation nimmt zwar die Schüler in Argentinien nicht so in Anspruch wie in Deutschland, wo sie zeitweise ein wichtigerer Erziehungsfaktor als Schule und Elternhaus ist, aber ihre Bedeutung ist nicht zu unterschätzen. Das “Deutsch-Argentinische Pfadfinderkorps” hat sich den argentinischen Boy Scouts angeschlossen und untersteht der Aufsicht der Landesorganisation, hat jedoch vieles von den deutschen Jugendbünden der alten und der neuen Zeit übernommen. Und im Laufe der Zeit nehmen Heimabende, Fahrten, Sing- und Spielschar der Pfadfinder einen immer breiteren Raum im Leben der Goetheschüler ein, die sich ihnen angeschlossen haben. Sie stellen allerdings an unserer Schule nur eine Minderheit dar.

Die Gesamtzahl der Schüler hat bereits 1933 die Grenze der sechshundert überschritten und erreicht 1938 die Rekordzahl von 628.

Da seit 1933 eine Vorortschule in Martinez besteht, die 1938 von 192 Jungen und Mädchen besucht wird, hat die Deutsche Schulvereinigung also insgesamt 820 Schüler zu betreuen. Nachdem die Vororte an der Nordstrecke immer stärker von deutschen Familien besiedelt werden, hatte sich zuerst in Vicente Lopez eine deutsche Schule aus kleinen Anfängen zu beachtlicher Bedeutung entwickelt. Sie wird 1931 von der Germania-Schule übernommen, die sich nach ihrer Trennung von der Goethe-Schule im Wettbewerb mit ihr Nachwuchs aus einer Gegend zu sichern versucht, die eigentlich Einflussgebiet der Goethe-Schule ist. Der Vorstand übernimmt daraufhin das “Protektorat” über ein deutsches Pädagogium in Olivos, aus dem die Martinez-Schule (später umgetauft in Gutenberg-Schule) hervorgeht. Das Grundstück von nahezu 10.000 Quadratmetern, das der Vorstand für diese Vorschule der Goethe-Schule mietet, gibt die Möglichkeit, hier einen eigenen pädagogischen Stil zu entwickeln. Die Gutenberg-Schule führt mit ihren Blumen, Bäumen und Tieren (sie verfügt über einen Ziegenbock, einen Esel, zwei Schafe, Vögel, Schildkröten und Kaninchen und erweitert ihren Tierpark ständig) ein idyllisches Eigenleben.

Durch den letzten Erweiterungsbau in der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg werden moderne Räume und Einrichtungen für den Unterricht in Naturwissenschaften, Zeichnen und Handarbeiten geschaffen. Um zusätzliche Ausgaben zu finanzieren, sind die Schulfeste noch immer das beste Mittel. Da man sich in lobenswerter Weise darum bemüht, bei dieser Gelegenheit den Eltern der Schüler und den Freunden und Gönnern der Schule das Geld auf gute Manier abzunehmen, erfindet man einen attraktiven Rahmen für diese Feste, indem man sich einmal an den Figuren Wilhelm Buschs inspiriert und ein andermal ein Münchner Oktoberfest feiert.

Da die argentinischen Behörden im Laufe der Zeit die Privatschulen stärker kontrollieren und in der Volksschule die Versetzung von einem Examen vor einer argentinischen Prüfungskommission abhängig machen, muss man für eine gründliche Vorbereitung der Schüler in den spanischen Fächern sorgen. Zum Glück verfügt man über eine außerordentlich tüchtige argentinische Vizedirektorin: Frau Amuchastegui, die im Jahre 1938 ihr fünfundzwanzigjähriges Jubiläum als Lehrerin der Goethe-Schule feiern kann. Die Aufsicht des Unterrichtsministeriums erstreckt sich nun auch auf den Oberbau der Schule. So wird verlangt, dass die staatsbürgerliche Erziehung im Geiste des Landes und seiner Verfassung erfolgt.

In den Jahren vor dem zweiten Weltkrieg schließen sich die deutschen Schulen, Schulvereine und Lehrer in Buenos Aires und dem Landesinneren enger aneinander an und suchen Fragen von allgemeinem Interesse mit vereinten Kräften zu lösen und in Gemeinschaftsveranstaltungen den Deutschen im Lande einen Einblick in ihre Arbeit zu geben und ihnen zu zeigen, was die deutsche Jugend im Lande zu leisten vermag. Der Deutsche Schulverband Buenos Aires wird reorganisiert. Er besteht nun aus je einem Vertreter der siebzehn ihm angeschlossenen Schulvereine, einem Mitglied des Kulturrats der Botschaft, einem Delegierten des Lehrervereins und einem Beirat aus den deutschen Wirtschafts- und Finanzkreisen. Hier werden alle Schulfragen, ob sie Unterricht, Beziehungen zu den Landesbehörden oder Verwaltung betreffen, gemeinsam durchgesprochen. Die Goethe-Schule führt jahrelang den Vorsitz im Schulverband.

Seit 1931 verfügt der Kulturrat der Deutschen Botschaft über einen Schulbeirat, der durch persönliche Besuche sich ein Urteil über die pädagogischen Leistungen und die wirtschaftliche Lage der 208 deutschen Schulen bilden soll, die es nach einer Volksbund-Statistik des Jahres 1936 in Argentinien gibt. Die Lehrerverbände, die in den besonders reich mit Schulen gesegneten Provinzen wie Entre Rios, Misiones oder Chaco bestehen, sind an den Deutschen Lehrerverein für Argentinien angeschlossen, der nicht nur gemeinsame wirtschaftliche und soziale Interessen vertritt, sondern auch kulturelle Aufgaben erfüllt, landeskundliche Lesebogen herausgibt und später, als in der Kriegszeit die deutschen Lehrbücher ausbleiben, eine vorzüglich zusammengestellte Auslese deutscher Gedichte und eigene Lesebücher veröffentlicht. Zur Heranbündung deutschargentinischen Lehrernachwuchses ist 1935 das Institut Crespo gegründet worden.

Der Deutsche Schulverband erwirbt im Jahre 1937 ein Schullandheim in Verónica. Im Dezember 1937 fährt die erste Klasse der Goethe-Schule, die dritte Mädchenklasse, die eben die Abschlussprüfung der argentinischen Volksschule gemacht hat, für zehn Tage nach Verónica. Unsere Schüler lernen hier Pflanzen, Bäume und Tiere ihrer Umwelt kennen, zugleich aber auch die deutsche Jugend anderer Schulen, was oft recht lehrreich ist.

Natürlich nimmt die Goethe-Schule an allen Gemeinschaftsveranstaltungen der deutschen Schulen in Groß-Buenos Aires teil. Seit dem Jahre 1930 finden sportliche Wettkämpfe der deutschen Jugend statt, die zuerst vom La Plata Gau der

Deutschen Turnerschaft veranstaltet werden; sie heißen später Reichsjugendwettkämpfe und werden schließlich in “Fest der deutschen Jugend” umgetauft.

Schulverband und Lehrerverein organisieren gemeinsam die Volksliederkonzerte, die alle zwei Jahre unter dem Motto “Tausend deutsche Kinder singen” im Teatro Colón stattfinden. Der Chor und die Volkstanzgruppe unserer Schule treten dabei mit Einzelgesängen und Tanzvorführungen hervor, abgesehen davon, dass sie an den Gesamtchören und Tänzen verschiedener Gruppen teilnehmen. Die Konzerte der Jahre 1933, 1935 und 1937 werden den Älteren unter unseren Lesern durch das farbenbunte Bild der Sänger und Tänzer und den Nachklang der jugendlichen Stimmen in Erinnerung geblieben sein. Das vierte Konzert, das im November 1939 fällig wäre, fällt aus…

Ein neuer Weltkrieg

Der Krieg führt zunächst zu einer Überbrückung der Meinungsverschiedenheiten, die unter den Deutschen Argentiniens (genauer gesagt den Deutschstämmigen sowie der verhältnismäßig kleinen Zahl deutscher Staatsbürger) über den Nationalsozialismus und das Dritte Reich bestehen. Für die Deutschargentiner wie für die meisten Auslandsdeutschen führt nicht das Dritte Reich, sondern Deutschland diesen Krieg, der sie selbst und alle, die sich noch mit dem Ursprungsland verbunden fühlen, mitbetrifft.

Für die Deutschargentiner sind Anfang und Ende des Krieges durch zwei Ereignisse markiert, bei denen sie sozusagen zu Zuschauern des Kriegsgeschehens werden; den Kampf des Panzerschiffs “Graf Spee” mit englischen Kreuzern bei Punta del Este und den Untergang des deutschen Kriegsschiffs, das seine Beschädigungen durch feindliche Treffer in Montevideo nicht reparieren darf und sich daher selbst versenkt, und das Auftauchen der deutschen U-Boote U 530 und U 977 in Mar del Plata, Monate nach Kriegsende.

Im übrigen erlebt man an der Goethe-Schule den Krieg auf Grund der Briefe und Berichte der Altschüler mit, die im Felde stehen. Bereits in den ersten acht Tagen des Krieges fällt ein Ex-schüler als Leutnant eines Panzerregiments im polnischen Feldzug. Der Zusammenhalt unter den ehemaligen Schülern hat sich in den letzten Jahren gefestigt: An dem Kameradschaftsessen des Jahres 1939 nehmen zweihundertfünfzig Altschüler teil. Ehemalige Schüler besuchen ihre Lehrer, beteiligen sich am Unterricht und führen bei der Weihnachtsfeier ein Krippenspiel auf.

Wenn sieh innerhalb des Deutschtums in Argentinien durch den Krieg die Einigkeit gefestigt hat, so entstehen nach außen hin zunehmende Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit den argentinischen Behörden. Zwar hat Argentinien im zweiten wie im ersten Weltkrieg seine Neutralität, die der Einstellung der Regierung und des Volkes entsprach, gegen alle Einmischungsversuche von außen her erfolgreich verteidigt und erst kurz vor Kriegsende dem Druck der Alliierten nachgegeben und für sie Partei genommen, aber das schließt nicht aus, dass man die Deutschen im Lande mit wachsendem Misstrauen beobachtet. Der Verdacht, der durch unvorsichtige Reden entstanden und durch Verleumdungen genährt worden ist, dass man in den deutschen Schulen die im Lande geborenen Kinder nicht zu guten Argentinern, sondern zu deutschen Chauvinisten erzieht, führt zu einer immer schärferen Kontrolle des deutschen Schulwesen in Argentinien.

Die Situation wird von Jahr zu Jahr problematischer: 1939 hat man den neuen Lehrplan der argentinischen Volksschule durchzuführen und sich, entsprechend einem Erlass des Vorjahrs, damit abzufinden, dass nun jede Volksschulklasse ein Abschlussexamen vor einer argentinischen Prüfungskommission machen muss. Im Jahre 1940 wird auch der Deutschunterricht auf der Unterstufe von argentinischen Inspektoren kontrolliert. Und 1941 kommt es zu den ersten Maßnahmen, die die deutschen Schulen in ihrem Wesenskern treffen und ihre spezifische Tätigkeit lahmlegen: Der Nationale Erziehungsrat (Consejo Nacional de Educacion) entzieht den Lehrern, die auf der Unterstufe der Goethe-Schule Deutschunterricht erteilen, die Unterrichtserlaubnis und verbietet ihnen das Betreten des Schulgebäudes; zugleich damit wird die Fortsetzung des Deutschunterrichts durch andere Lehrkräfte untersagt. In den Fächern, die die suspendierten deutschen Lehrer in spanischer Sprache unterrichteten, können sie durch Kollegen ersetzt werden, die Unterrichtserlaubnis beziehungsweise ein staatliches Diplom aufzuweisen haben. Es stellen sich sofort eine Anzahl von Schülermüttern, die Lehrerinnen sind, zur Verfügung. Der Vorstand bemüht sich, die Aufhebung der Maßnahme zu erreichen, hat aber zunächst keinen Erfolg.

Auch das Fortbestehen der Oberstufe ist gefährdet: Seit dem Jahre 1938 benötigt jede Privatschule mit ausländischer Unterrichtssprache und Schülern über vierzehn Jahren zur Ausübung ihrer Tätigkeit eine Genehmigung, die jedes Jahr erneuert werden muss. Falls das Unterrichtsministerium, von dem diese Genehmigung abhängt, dieselbe ablehnende Haltung den deutschen Schulen gegenüber einnimmt wie der Nationale Erziehungsrat, muss man mit der Schließung der Oberstufe rechnen. Da sich eine Parlamentskommission mit der antiargentinischen Tätigkeit deutscher Agenten im Lande beschäftigt und auch Lehrer vorgeladen worden sind, denen man politische Beeinflussung ihrer Schüler nachsagt, hält es der Schulvorstand für das beste, selbst eine Inspektion der Klassen Obertertia bis Oberprima zu beantragen. Im Verein mit den Inspektoren des Ministeriums soll ein neues Programm für die Oberstufe aufgestellt und zur Genehmigung eingereicht werden. Man versucht, damit den Nachweis zu erbringen, dass den Bestimmungen gemäß die Goetheschüler “im Geiste des Landes und seiner Verfassung” erzogen werden.

Es gelingt tatsächlich, das Ministerium zufriedenzustellen, und auch der Nationale Erziehungsrat erteilt im nächsten Jahr wieder die Genehmigung zum Deutschunterricht auf der Unterstufe der Goethe-Schule, doch nicht alle deutschen Lehrer werden wieder zum Unterricht zugelassen. Das Lehrverbot wird 1942 sogar auf Lehrer der den Provinzbehörden unterstehenden Gutenberg-Schule ausgedehnt, und die Schule selbst wird für mehrere Monate geschlossen. In Zukunft müssen nun auch die deutschen Lehrbücher für die Volksschule dem Nationalen Erziehungsrat zur Genehmigung vorgelegt werden.

Obwohl die Arbeit so immer schwieriger und unbefriedigender wird und sich für viele deutsche Familien auch die wirtschaftliche Situation verschlechtert, was aus der Zunahme der Gesuche um Schulgeldbefreiung hervorgeht, verringert sich die Schülerzahl der Goethe-Schule nur unwesentlich (sie sinkt 1944 auf 511), und an der Gutenberg-Schule ist sogar eine Zunahme (auf 222 im Jahre 1944) zu verzeichnen, dank ihrem Ausbau bis zur Abschlussprüfung der Volksschule. Im Jahre 1944 erreicht die Zahl der Goetheschul-Abiturienten die Rekordziffer zweiundzwanzig.

In den letzten Kriegsjahren tritt eine Art Entspannung in den Beziehungen der deutschen Schule zu den argentinischen Behörden ein. Trotzdem gibt sich niemand Illusionen über ihre Zukunft hin, als Argentinien am 27. März 1945 Deutschland den Krieg erklärt.

Ende und Neubeginn

Die Kriegserklärung bedeutet Beschlagnahme des deutschen Eigentums in Argentinien. Eine neue Behörde wird geschaffen, die den deutschen Besitz im Lande verwalten und die Frage studieren soll, welche endgültigen Bestimmungen man darüber zu treffen gedenkt. Sie nennt sich Junta de Vigilancia y Disposición Final de Ia Propiedad Enemiga. Die Deutsche Schulvereinigung Goethe-Schule wird zunächst am 29. August 1945 von der Aufsichtsbehörde interveniert; dann wird, nachdem das Schuljahr 1945 noch zu Ende geführt worden ist, das Gebäude der Goethe-Schule im März 1946 beschlagnahmt.

Diese Maßnahme der Junta bedeutet für den Schulverein, dem man die Rechtspersönlichkeit aberkannt hat, so dass er keinen Einspruch erheben kann, dass er allen Besitz, den er in achtundvierzigjähriger Arbeit erworben hat, endgültig oder zeitweise, verliert. Für die Schüler bedeutet er eine keineswegs einfache Umschulung, denn trotz aller Versuche, den deutschen Lehrplan den argentinischen Programmen anzupassen, ist der Übergang auf eine argentinische Schule schwierig, und viele müssen eine Rückversetzung in eine niedrigere Klasse in Kauf nehmen. Für die Lehrer schließlich bedeutet die Schließung der Goethe-Schule fristlose Kündigung mit einer Entschädigung, die zwei Monatsgehälter ausmacht. Vorstand und Direktor legen ihnen nahe, die Ex-schüler, die auf ein Nationalkolleg übergegangen sind, in privaten Kursen weiter in Deutsch und deutscher Literatur zu unterrichten. Das ist für Lehrer und Schüler auf Jahre hinaus eine Not- und Übergangslösung, die freilich pädagogisch wie ökonomisch unbefriedigend bleibt. Man kann in Kursen mit zwei oder drei Wochenstunden allenfalls Schüler, die bereits im mündlichen und schriftlichen Sprachgebrauch eine gewisse Sicherheit erworben haben, sprachlich und literarisch weiterbilden, aber niemals die Grundlage schaffen, die die Unterstufe der Goethe-Schule vermittelt hat. Und die Lehrer können von den Einnahmen durch ihre Kurse nicht leben. Sie müssen also eine andere Beschäftigung übernehmen, in die sich die meisten erstaunlich schnell hineinfinden, so dass manche, als später wieder die Möglichkeit der Rückkehr in den Lehrerberuf besteht, keinen Gebrauch davon machen.

Am unzufriedensten mit der neuen Situation sind die Eltern. Sie geben sieh Rechenschaft davon, wie ihre Kinder, auf deren Deutsch sie stolz waren, sprachlich verwildern und sich auch in anderer Beziehung in dem neuen Milieu nicht eben günstig entwickeln. Aber niemand hat in den ersten Jahren nach dem Krieg den Mut, sich für die Neugründung einer deutschen Schule einzusetzen. Wer wird Geld, das in diesen Jahren ohnehin nicht so leicht zu verdienen ist, dafür ausgeben, ein Grundstück oder ein Gebäude zu erwerben, das bei nächster Gelegenheit wieder von irgendeiner Junta beschlagnahmt werden wird?

Einige argentinische Lehrer der alten Goethe-Schule versuchen, einen Teil der verwaisten Schüler in dem Instituto Echeverria zu sammeln, das in Belgrano mit finanzieller Hilfe verschiedener Eltern gegründet worden ist. Aber die Hoffnung, dass das Institut zum mindesten vorübergehend die deutsche Schule ersetzen könne, erfüllt sich nicht.

So findet sich trotz allem im Jahre 1949 ein Kreis ehemaliger Goethe-Schüler, auf Anregung von Professor von Soubiron und Dr. W. Busch, zur Gründung einer neuen deutschen Schule zusammen. Man sucht zuerst in Belgrano nach einem geeigneten Gebäude, findet aber nicht das richtige. Daher taucht der Gedanke auf, mit der Neugründung die ehemalige Gutenberg-Schule in Martinez weiterzuführen, was sich auch aus dem Grunde empfiehlt, dass die meisten Familien, die an dem Unternehmen interessiert sind, an der Nordstrecke wohnen. Man sammelt Geld und legt auf einer Reihe von Besprechungen die Richtlinien für die Organisation des neuen Vereins und die pädagogische Ausrichtung der neuen Schule fest.

Im Oktober 1950 hat sich dieser Kreis so weit vergrößert, dass man daran denken kann, ein Grundstück zu erwerben. Man entschließt sich zum Kauf einer günstig gelegenen Villa älteren Stils, aber mit verhältnismäßig großem Garten in der Muñiz 477 in Martinez; das Haus soll im Laufe der Zeit durch einen Neubau ersetzt werden. So entsteht die Escuela del Norte, für die man Studienrat Max Eckenberger, einen der alten Lehrer der Goethe-Schule, als Direktor gewinnt.

Wieder, wie vor dreiundfünfzig Jahren, steht hinter der Schule ein Kreis von Schülervätern und —müttern, grossenteils ehemaligen Goetheschülern, die bereit sind, Zeit und Geld für die Erziehung ihrer Kinder zu opfern. Die ersten Jahre der neuen Schule sind recht bewegt: Sie ist eine Art Chamäleon, das sich ständig verändert. Dabei fehlt es immer an Platz, denn die Schülerzahl wächst rapide, in viel rascherem Tempo als in der alten Belgrano-Schule. Die Art, wie man es fertigbringt, das Schulgrundstück immer von neuem zu vergrößern, entbehrt nicht der Komik. Die Muñiz ist einmal eine friedliche Straße für ältere Leute gewesen, die vor dem Großstadtlärm in eine Vorstadt ohne viel Verkehr geflüchtet sind. Jetzt fahren schon in aller Frühe Omnibusse und Autos vor dem Schulgebäude vor, und dann hört der Lärm bis zum späten Nachmittag nicht auf: alle Augenblicke klingelt es zur Stunde oder zur Pause, die Unterrichtsgeräusche sind relativ harmlos, es wird lediglich im Chor gesprochen oder gesungen, aber den Pausenlärm hört man bis über die Bahnlinie hinweg. Die nervenschwachen Nachbarn bieten schon nach einem Jahr ihr Grundstück oder Haus dem Schulverein zum Kauf an, die hartnäckigen oder harthörigen etwas später.

Man erlebt freilich auch Überraschungen: Drei alte Damen, mit deren Haus man bereits gerechnet hat, erklären plötzlich, sie hätten sich die Sache anders überlegt: Es sei doch schön, soviel junges Leben in seiner Nachbarschaft zu haben, man werde an die eigene Kindheit erinnert und vergesse die Beschwerden des Alters darüber. Die Schule sei ein wahrer Jungbrunnen für sie — ein Umzug würde sie unglücklich machen. Und ein alter Herr, dem man den Abschied von seinem Haus dadurch zu erleichtern versuchte, dass man den Singsaal in einen Anbau an der Grenze seines Grundstücks verlegte, stellt sich als Musikliebhaber heraus, den der Chorgesang so begeistert, dass er mitzusingen versucht.

Im Sinne der alten Belgrano-Schule ist die Escuela del Norte allerdings keine deutsche Schule: Der Vormittagsunterricht wird nach dem argentinischen Stundenplan und Lehrprogramm auf spanisch durchgeführt; die Deutschstunden sind auf den Nachmittag verlegt worden und finden im Rahmen einer Sprach-Akademie (Academia de Idiomas) statt, denn der deutsche Charakter der Schule, die sich ja auch lediglich Escuela del Norte nennt, soll möglichst wenig betont werden — auch im Namen des Schulvereins, der zunächst Asociación Cooperadora und späterer Asociación Escolar y Cultural del Norte heißt, fehlt jeder Hinweis auf eine Nationalität. Der Nachmittagsunterricht lehnt sich, zum mindesten in den ersten Jahren, an keinen deutschen Lehrplan an, man strebt kein deutsches Abschlussexamen an, sondern begnügt sich mit Sprachkursen (Deutsch und Englisch), Sport und “trabajos manuales” (Werkunterricht). Damit ist, freilich auf Kosten der deutschen Spracherziehung und Kulturübermittlung, ein altes Problem gelöst: die Vorbereitung der Schüler auf die argentinischen Examina. Falls die Escuela del Norte es zu einem Oberbau bringt, wird sie bei Fortführung des Vormittagsunterrichts nach argentinischem Programm mit dem Bachillerato als Abschlussexamen ihren Absolventen den Zugang zu einem Hochschulstudium im Lande ermöglichen, was, aus der Perspektive der Nachkriegsjahre heraus gesehen, wesentlich wichtiger scheint als die Vorbereitung auf ein deutsches Abitur.

In der ersten vier Jahren werden die sieben Volksschuljahre bis zum Abschlussexamen “de sexto grado” durchgeführt; die Schülerzahl wächst von 220 im Gründungsjahr 1951 auf 380 im Jahre 1954. Durch verschiedene Umbauten erhält die Schule eine moderne Front und ein neues Stockwerk mit sechs Klassenzimmern. Der Schulverein stellt bei den Behörden in La Plata den Antrag, als juristische Person anerkannt zu werden. Nach den Unterlagen, die man zu diesem Zweck einreichen muss, beträgt das Vermögen der Asociación Escolar y Cultural del Norte, deren Präsident Dr. Willy Busch ist, 726.000 Pesos. Leider wechseln die Schulleiter allzu rasch; Max Eckenberger, auf den man mit Recht grosse Hoffnungen gesetzt hat, stirbt im ersten Jahr seiner Amtstätigkeit; sein Nachfolger, Herr Garbe, wird nach zwei Jahren von Deutschland aus als verdienter Auslandslehrer pensioniert; und der dritte Direktor, Lehrer Grönewald, stirbt 1957 auf einer Deutschlandreise.

Trotzdem wird der Aufbau der Schule planmäßig weitergeführt. Nachdem die Provinzbehörden die Escuela del Norte als den Staatsschulen gleichwertig anerkannt haben, beginnt man 1955 mit den ersten zwei Jahren der Oberstufe, deren Leitung Universitätsprofessor Dr. Berenguer Carisomo übernimmt. Der Schulverein ist inzwischen als juristische Person anerkannt worden, so dass der Grundstück— und Hausbesitz auf seinen Namen eingetragen werden kann. Die wachsende Schüler— und Klassenzahl macht neue Um— und Ausbauten unter Leitung des Architekten Himmel notwendig, der nach einem Plan, den er von Anfang an verfolgt hat, noch ein Stockwerk den bestehenden hinzufügt. Nun muss man allerdings an den Kauf neuer Grundstücke denken — an Angeboten fehlt es nicht. Es ist jetzt auch leichter, das Geld für den Ausbau der Schule aufzubringen, denn die kritischen Jahre nach dem Krieg, in denen die wirtschaftliche Lage unsicher gewesen ist und mancher sich gescheut hat, eine deutsche Institution zu unterstützen, sind vorüber — die Jahre, in denen für viele Argentiner ein Deutscher ein Nazi gewesen ist, wie ihn die nordamerikanischen Kriegsfilme darstellten: ein dicker, biertrinkender Gangster. Man glaubt auch nicht mehr, dass die Deutschen Patagonien erobern wollen. Der Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft hat den Respekt vor der deutschen Tüchtigkeit wiederhergestellt. Die deutschen Firmen haben sich ihren Platz, von dem sie im Krieg durch die schwarzen Listen verdrängt wurden, zurückerobert. Man kann bei Schulfesten und Sammlungen mit ihrer Hilfe rechnen und bald auch mit der Unterstützung der Bundesrepublik, wenn man deutsche Lehrer für die Sprachakademie braucht. Deutsche Geschichte und Erdkunde und naturwissenschaftlicher Unterricht nach deutscher Methodik werden in den Nachmittagsunterricht eingegliedert. Noch ist man sich über das Lehrziel, das die Sprachakademie erreichen soll, nicht im klaren. Aber sowie ein Studium in Deutschland wieder in den Bereich der Möglichkeiten rückt, beginnt man sich mit der Frage zu beschäftigen, ob es sich erreichen lässt, dass die Escuela del Norte ihre Schüler gleichzeitig auf das Bachillerato und das Abitur vorbereitet.

Im Jahre 1957 ist die Schülerzahl der Unterstufe bereits auf 548 angestiegen, dazu kommen 129 Besucher der Oberstufe, die bis zum dritten Jahr reicht; die Anzahl der Teilnehmer an den Kursen der Sprachakademie beträgt 614, ihre Leitung hat Dr. Veuhoff übernommen. Der Schulverein hat zwei neue Grundstücke, in der Pacheco und der Muñiz, erworben und beginnt mit dem Umbau der dazugehörenden Häuser. Eine Kantine für die Schüler, die zu weit von Martinez entfernt wohnen, um in der kurzen Mittagspause zwischen dem spanischen Vormittags- und dem deutschen Nachmittagsturnus zu Hause essen zu können, ist eingerichtet worden, sie muss bald zu einem geräumigen Esssaal erweitert werden.

Wie die Goethe-Schule früher will die Escuela del Norte durch Ausflüge und Ferienreisen das Kameradschaftsgefühl der Schüler entwickeln und den Kontakt zwischen Lehrern und Schülern fördern; Man unternimmt Winterfahrten nach Bariloche zum Skilaufen und organisiert im Sommer ein Ferienlager in Traful, das zu einer ständigen Einrichtung wird. Ebenso soll die Schule im Sinne der in Belgrano gepflegten Tradition ein kultureller Mittelpunkt der in ihrem Umkreis wohnenden Deutschen werden, indem sie Konzerte, Vorträge und Filmvorführungen veranstaltet: Mathias Wieman rezitiert in der Schule, der Thomanerchor singt unter Leitung Günther Ramins und Detlev Kraus gibt ein Klavierkonzert.

Obwohl die Zeiten besser geworden sind und das Geld für gemeinnützige deutsche Unternehmungen reichlicher fließt, gibt es immer wieder finanzielle Schwierigkeiten infolge der Um- und Neubauten, die nicht aufhören, oder einer neuen staatlichen Reglung der Lehrergehälter (Estatuto del Docente). Die Einnahmen durch Schulgelder und Mitgliederbeiträge reichen zur Finanzierung außerordentlicher Ausgaben nicht aus, man bleibt auch weiterhin auf zusätzliche Einkünfte durch Schulfeste und Schenkungen angewiesen.

Das Jahr 1959 ist ein Markstein in der Schulgeschichte, denn in diesem Jahr bestehen die ersten Schüler der Escuela del Norte die Abschlussprüfung der argentinischen höheren Schule, das Bachillerato. Die Oberstufe zählt nun 272, die Unterstufe (einschließlich des Kindergartens) 587 Schüler. Im nächsten Jahr erhält die Norte-Schule durch die neuen staatlichen Vorschriften für Privatschulen das Recht, Examina mit ihren eigenen Professoren abzuhalten, Titel zu verleihen und Zeugnisse auszustellen, während sie bisher vom Nationalkolleg Vicente López abhing.

Im Kindergarten, der sich von Anfang an eines regen Besuches erfreut, hat man es mit Kindern zu tun, die entweder nur deutsch oder nur spanisch, unter Umständen gebrochen spanisch und leidlich deutsch oder umgekehrt, sprechen, so dass man schließlich dazu übergeht, die deutschsprachigen vormittags und die spanischsprachigen nachmittags kommen zu lassen.

Nun wird auch das Ziel der Sprachakademie festgelegt: Sie soll auf die deutsche Reifeprüfung vorbereiten, die nach einem dreizehnten Schuljahr (das auf das Bachillerato folgt) abgelegt werden soll. Die ursprünglichen Lehrpläne werden dementsprechend abgeändert und neue Fächer in das Programm aufgenommen, zum Beispiel Mathematik. Dabei sind Überschneidungen zwischen dem argentinischen und dem deutschen Lehrplan unvermeidlich, viele Stoffe und Themen tauchen in beiden auf und werden zweimal, wenn auch oft von verschiedenen Gesichtspunkten aus oder mit anderen Methoden, behandelt. Die Möglichkeiten, zu einer Koordination zu gelangen, sind begrenzt. Im Jahre 1962, das einen zweiten Höhepunkt in der Schulgeschichte darstellt, findet das erste Abitur in der Escuela del Norte statt: Vor einer Prüfungskommission unter Vorsitz von Oberschulrat Jänichen legen die neun Schüler des dreizehnten Jahres die Reifeprüfung ab. Die Sprachakademie zählt in diesem Jahr 859 Schüler, die von 33 Professoren unterrichtet werden.

Nachdem sich die Escuela del Norte allmählich zu einer Monsterschule auswächst, wird es immer schwieriger, Lehrer zu finden, die den steigenden Ansprüchen genügen. Der Vorstand versucht, sich bewährte argentinische Kräfte dadurch zu sichern, dass er ihnen eine full-time-Beschäftigung anbietet. Für die deutsche Oberstufe der Sprachakademie kann man nur aus der Bundesrepublik den erforderlichen Nachwuchs erhalten und immer nur für einige Jahre. In besonderen Fällen genehmigen die deutschen Behörden Verlängerungen, oder es wir einem Lehrer freigestellt, nach einem oder einigen Dienstjahren in der Heimat noch einmal nach Buenos Aires zu gehen. Auf diese Weise bleibt Dr. Veuhoff der Schule gerade in ihren Wachstumsjahren und darüber hinaus als Direktor erhalten.

Inzwischen hat es die Escuela del Norte nicht nur zu neuen Klassenzimmern, sondern auch zu einer Turnhalle gebracht — einen Sportplatz stellt ihr die Firma Orbis zur Verfügung — sowie zu Räumen für Werk- und Handarbeitsunterricht.

Nachdem das Schullandheim Verónica zurückgegeben worden ist, verbringen vom Jahr 1961 ab jeweils einige Klassen der Unterstufe der Norte-Schule zwei oder drei Wochen im Heim, um Landleben und Natur näher kennenzulernen. An den kulturellen Veranstaltungen der Schule beteiligt sich mm auch der Chor mit deutschen Liedern, nachdem Musikunterricht in das deutsche Programm aufgenommen worden ist.

Die Schule, die jetzt zwölf Jahre besteht und buchstäblich und im übertragenen Sinne, architektonisch und pädagogisch, jedes Jahr ein Stück gewachsen ist, hat sich 1962 zu einer kompletten höheren Schule im argentinischen und deutschen Sinn, mit Reifeprüfung und Bachillerato ausgewachsen. Nach dem Höhepunkt des ersten deutschen Abiturs wird ihre Entwicklung rückläufig: Sie schrumpft 1963 zu einer deutsch-argentinischen Volksschule zusammen, denn inzwischen ist die Goethe-Schule zurückgegeben worden, und die Oberstufe zieht nach Belgrano um.

Der Abschied von Martinez fällt manchem nicht leicht. Viele wohnen an der Nordstrecke und haben nun einen längeren Schulweg. Belgrano ist längst nicht mehr Zentrum des Deutschtums an der nördlichen Peripherie der Hauptstadt, der Schwerpunkt hat sich immer weiter nach Norden hin verlagert, seit Acassusso, San Isidro mit seinen Lomas und Punta Chica immer mehr von Deutschen besiedelt worden sind. Aber die Rückkehr nach Belgrano ist vermutlich nicht die endgültige Lösung des deutschen Schulproblems an der Nordstrecke. Zunächst einmal muss man jedenfalls in das Gebäude, das man nach jahrelangen Bemühungen zurückerhalten hat, wiedereinziehen, auch wenn-man inzwischen eine lokalpatriotische Beziehung zu der Norte-Schule entwickelt hat.

Die Goethe – Schule wird zurückgegeben

Zehn Jahre nach dem verlorenen Krieg erhält die Schul-vereinigung durch eine Verfügung der Regierung, nach der sie als juristische Person wiederanerkannt wird, eine Möglichkeit, ihre Ansprüche auf das Schulgebäude geltend zu machen. Auf einer Versammlung, die im Juli 1956 stattfindet, wird ein Vorstand mit Dr. von Soubiron als Präsidenten gewählt. Im Dezember desselben Jahres erlässt die Regierung ein Dekret, nach dem die deutschen kulturellen Vereinigungen, deren Vermögen 1945 beschlagnahmt worden ist, ihren Besitz zurückerhalten sollen. Es dauert anderthalb Jahre, bis die Schulvereinigung auf Grund dieser allgemeinen Entscheidung eine konkrete Bestätigung ihres Besitzrechtes auf das Gebäude der Goethe-Schule erhält. Das heißt aber noch nicht, dass sie über das Gebäude verfügen kann. In die Goethe-Schule ist nach ihrer Beschlagnahme das Instituto del Profesorado Secundario eingezogen, dessen Direktor einmal Professor Dr. Keiper gewesen ist. Und das Institut ist nur dann bereit, die Schule zu räumen, wenn man ihm ein gleichwertiges Gebäude zur Verfügung stellt. Die juristische Lage ist insofern klar, als Einwände in der Art, wie sie das Institut erhebt, nicht rechtskräftig sind. Aber das Instituto Superior del Profesorado, wie sich die vor 50 Jahren begründete Lehrerbildungsanstalt neuerdings nennt, hat gute Beziehungen zum Erziehungsministerium und zur Presse. So kommt es, dass die Schulvereinigung, die um Rechtsschutz nachsucht, zwar in weiteren anderthalb Jahren eine Gerichtsentscheidung zu ihren Gunsten durchsetzt, die Räumung des Gebäudes aber doch nicht erfolgt, da die Regierung selbst Berufung gegen das Urteil einlegt. Nun dauert es allerdings nur noch ein halbes Jahr, bis das erste Urteil bestätigt wird. Und nachdem jetzt kein weiterer Einspruch möglich ist, wird das Gebäude in aller Form und mit feierlichen Reden auf einer vom der Schulvereinigung einberufenen Versammlung am 27. Mai 1960 vom Unterrichts- und Justizminister Dr. Luis Mac Kay dem Vorstand zurückgegeben. Professor Jaime, der Leiter der Abteilung für höhere Schulen im Ministerium, hält eine Ansprache, in der er die Leistungen deutscher Pädagogen für das argentinische Erziehungswesen würdigt, und Dr. Busch spricht von den Ex-schülem der Goethe-Schule, die heute bedeutende Stellen im Staatsdienst, im Heer und in der Industrie bekleiden. Die guten Beziehungen zu den Behörden, die vor fünfzehn Jahren unterbrochen wurden, sind wiederhergestellt.

Nun muss allerdings das Gebäude überholt und neueingerichtet werden, wenn die Schule im nächsten Jahr mit dem Kindergarten und den ersten vier Volksschuljahren wiederöffnet werden soll, wie es der Vorstand plant. Dank der Gebefreudigkeit der Vereinsmitglieder und Freunde der Schule kann zunächst der linke Flügel des Gebäudes wiederhergestellt und mit Bänken und Schulmaterial ausgestattet werden. Mit einer kleinen Schar von 58 Schülern beginnt der Unterricht am 13. März 1961. Im nächsten Jahr wird die Überholung des Gebäudes, die fünf Millionen Pesos kostet, zu Ende geführt. Die Schülerzahl verdreifacht sich. Und 1963 zieht die Oberstufe der Norte-Schule in die mit aller Liebe und Sorgfalt wiederhergestellte Goethe-Schule ein. Noch bevor sich das alte Gebäude so wieder mit jungen Menschen belebt, haben Vorstand, Lehrer und Schüler in einer Gedenkfeier von einem der verdienstvollsten Schulleiter Abschied genommen: Professor Dr. Keiper ist mit 93 Jahren in Deutschland verstorben.

Arbeit, Sorgen und Probleme hören nicht auf. Fünf Jahre hat es gedauert, bis der Rechtsanspruch auf das Gebäude erfüllt worden ist. Jetzt handelt es sich darum, die Schulvereine der Norte- und der Goethe-Schule zu vereinigen und darüber hinaus die beiden durch ihre Mitglieder und Vorstände eng miteinander verbundenen Körperschaften mit den Germania- und Humboldt-Schulvereinigungen zusammenzuschließen. Durch diesen Zusammenschluss und die Zusammenlegung der entsprechenden Vermögenswerte soll ein stabiles deutsch-argentinisches Schulsystem gesichert werden. Die Idee ist vorzüglich, aber es dauert mehrere Jahre, bis durch die Anerkennung der neuen, durch den Zusammenschluss der vier Vereine entstandenen Schulvereinigung als juristische Person eine rechtliche Grundlage für die Fusion geschaffen wird. Inzwischen hat die Germania-Schule in der Pacheco in Martinez ein Grundstück gekauft, auf dem ein neuer Kindergarten für die Escuela del Norte gebaut wird, und die Humboldt-Schule hat das der Goethe-Schule benachbarte Grundstück in der Cuba 1832/50 zur Erweiterung der Räumlichkeiten für ihre Unterstufe und zur Anlage eines neuen Sportplatzes erworben.

Es wird also wieder an- und umgebaut. Die Geschichte einer Schule ist im Grunde eine Folge von Umbauten, und wenn man damit fertig ist und die Schule ausgebaut ist, zieht man um oder wird durch höhere Gewalt herausgesetzt, so dass die Folge der An- und Umbauten anderswo von neuem beginnt. Aber es ist nun einmal nicht zu vermeiden, dass eine Schule, die wächst, neue Räume braucht. Das alte Gebäude reicht nur aus, wenn der Schulbetrieb stagniert.

In der Folgezeit werden für die Unterstufe neue Klassenzimmer durch einen Anbau nach der Obligado, nicht nach der Cuba hin geschaffen, so dass man daran denkt, das von der Humboldt-Schule erworbene Grundstück wieder zu verkaufen.

Zur selben Zeit erstehen die meisten deutschen Schulen, die früher in Gross-Buenos Aires bestanden haben, von neuem. Sie schließen sich zu einer “Arbeitsgemeinschaft deutscher Schulen” unter der Leitung von Dr. Armin Finsterbusch zusammen.

Die neue Goethe-Schule

Die neue Goethe-Schule ist im wesentlichen eine höhere Schule, deren Unterbau — Kindergarten und Primarschule — der Schülerzahl nach weit hinter der Escuela del Norte zurückbleibt.

Ihrem Aufbau nach ist die Oberstufe der neuen Goethe-Schule von dem Oberbau der alten völlig verschieden. Man kann sagen, dass sie ein höchst kompliziertes Gebilde ist: die Vereinigung eines argentinischen Nationalkollegs beziehungsweise einer Escuela Comercial sowie einer argentinischen Handelsschule mit einer deutschen höheren Schule, die eine Spezialisierung in Sprachen, Mathematik und Naturwissen-schaften und Handelsschulfächem ermöglicht und mit einem zusätzlichen Jahr zur Reifeprüfung führt. Es bestehen somit zwei Lehrerkollegien, die ihre eigenen Direktoren haben und nach Vorbildung, Zielsetzung und Methodik des Unterrichts recht verschieden voneinander sind. Außerdem bestehen innerhalb der argentinischen und der deutschen Oberstufe verschiedene Lehrgänge, für die sich die Schüler oder ihre Eltern in freier Wahl entscheiden können.

Nach dem dritten Jahr des argentinischen Oberbaus kann man an den Handelsschulkursen teilnehmen mit dem Abschluss-examen eines “Perito Mercantil” oder sich für die Escuela Normal (das argentinische Lehrerseminar) entscheiden. Es dauert nicht lange, und die ersten Lehrerinnen, die an der Goethe-Schule ausgebildet worden sind, unterrichten in Belgrano oder Martinez, während zugleich die ersten “Handels-Sachverständigen” der Goethe-Schule ins Geschäftsleben eintreten.

Die Peritos mercantiles haben vom Unterricht der deutschen Abteilung (so nennt sich nun die alte Sprachakademie) nicht nur sprachlich, sondern auch fachlich profitiert, wenn sie den Lehrgang mitgemacht haben, der sich auf Handelsschulfächer spezialisiert. Ebenso können Lehrerinnen oder Lehrer, je nach den Fächern, für die sie sich interessieren, im mathematisch-naturwissenschaftlichen oder sprachlichen Lehrgang wertvolle Spezialkenntnisse erwerben, die ihnen in ihrem Beruf zugute kommen. Wer sich im dreizehnten Schuljahr auf die Reifeprüfung vorbereiten will, muss allerdings im vierten und fünften Jahr Mathematik und Naturwissenschaften als Spezialfächer wählen. Allen Schülern soll das “psycho-pädagogische Kabinett” der argentinischen Oberstufe als Beratungsstelle bei der Berufswahl helfen.

Eine Möglichkeit zur Vereinfachung der komplizierten Schulstruktur hat sich —gerade während des Druckes dieser Schrift— durch die Genehmigung des argentinischen Unterrichtsministeriums ergeben, an der Goethe-Schule das Programm des “Bachillerato en Ciencias y Letras” versuchsweise einzuführen. Dieses Programm macht den doppelten Turnus überflüssig, denn es sieht zweisprachigen Unterricht vor: in unserem Fall in Spanisch und Deutsch, wobei die beiden Sprachen gleichmäßig berücksichtigt und Mathematik und Naturwissenschaften auf deutsch, Geschichte, Bürgerkunde, Geographie und Philosophie auf spanisch unterrichtet werden. Die Zahl der Wochenstunden verringert sich damit wesentlich.

Die Goethe-Schule bietet auch deutschen Kindern, die eine argentinische Schule besuchen, eine Möglichkeit, ihre Deutschkenntnisse zu befestigen und zu verbessern mit Hilfe der Sprachkurse der Humboldt-Akademie, die von dem letzten Schulleiter der alten Goethe-Schule, Dr. Wirth, geleitet wird.

Unterdessen nimmt die Schülerzahl der Escuela del Norte, die nach der Abwanderung der Oberstufe mehr Raum als notwendig für ihre Volksschulklassen zu haben scheint, geradezu beängstigend zu. Drei Parallelklassen in einem Jahrgang werden zu einer Selbstverständlichkeit. Im Jahre 1970 erreicht sie die Rekordzahl von 876 Schülern (einschließlich Kindergarten), die hoch über der Gesamtziffer für Unter-und Oberstufe der Goethe-Schule liegt (189 bezw. 415). Wie die Goethe-Schule in Dr. Veuhoff hat die Escuela del Norte in Kurt Grassmann einen bewährten und landeserfahrenen Direktor, der ihr zum Glück lange Jahre hindurch erhalten bleibt.

Obwohl der Aufbau der neuen Goethe-Schule von dem der alten so verschieden wie nur möglich ist, hat sich eine Tradition erhalten: Der Kontakt zwischen Lehrern und Schülern ist so rege wie früher und wird durch gemeinsame Reisen, die sich nun auch auf die Nachbarländer erstrecken und sogar nach Deutschland führen, und durch gemeinsames Singen und Musizieren, Rudern und Volleyballspielen gefördert. Das kommt der Schule zugute, die bei Sportwettkämpfen Preise erringt und durch Gastspiele ihres Chors im Rundfunk an Prestige gewinnt.

Für die Schulvereinigung hören freilich die Finanzprobleme nicht auf. Das immer höhere Defizit des Schulbetriebs muss durch Schenkungen und Schulfeste gedeckt werden. Aber es gelingt dem Vorstand immer wieder, dieser Probleme Herr zu werden. Ja, er kann es sich erlauben, im Jahre 1970 Schulgeldermässigungen und —Befreiungen in der Höhe von nahezu fünf Millionen Pesos zu gewähren. Und mit Hilfe einer Erhöhung der Mitgliederbeiträge bringt er sogar noch die Anzahlung für den Kauf eines Grundstücks von vierzigtausend Quadratmetern in den Lomas de San Isidro auf.

Wir wollen unserer Schule, die im vergangenen Jahr ihr fünfundsiebzigjähriges Jubiläum gefeiert hat, wünschen, dass sie in den Lomas de San Isidro ihren hundertsten Geburtstag mit möglichst vielen unserer Leser als Gästen festlich begehen darf.

Deutscher Schulverein Belgrano

Schülerzahl des Schulvereins, Präsidenten

1897: 18 (Dez.) C. Hansen

1898: 37

1899: 55 A. Breyer

1900: 69

1901: 83 A. Lutz

1902: 86

1903: 97 J. Kade

1904: 100 C. Hansen

1905: 113

1906: 114 C. Hansen – A. Parcus

1907: 113 A. Parcus

1908: 118 E. Möring

1909: 125

1910: 128

1911: 135 C. Moll

1912: 154

1913: 160

1914: 380

1915: 400 M. Lützeler

1916: 415 Th. Classen

1917: 389 W. Stahringer

1918: 399 W. Stahringer

1919: 392 C. Peters

1920: 418

1921: 435

1922: 410

1923: 402

1924: 461

1925: 459 L. Könnecke

1926: 467

1927: 467

1928: 507

1929: 519 

Deutsche Schulvereinigung Goethe-Schule

1930: 515 L. Koennecke

1931: 549

1932: 571 H. Kammann

1933: 611

1934: 590 + 118 (Gutenberg-Schule) L. Freude

1935: 595 + 140

1936: 580 + 153

1937: 610 + 178 

1938: 628 + 192

1939: 591 + 178

1940: 580 + 148

1941: 584 + 171

1942: 526 + 168

1943: 517 + 188

1944: 511 + 222 G. Wolf Seifert

1945: 550 + 150 

Asociación Cooperadora Escuela del Norte

1951: 220 Dr. W. Busch

1952: 332

1953: 390

Asociación Escolar y Cultural del Norte

1954: 380 Dr. W. Busch

1955: 408

1956 : 526 + 62 (Obertstufe)

1957: 548 + 129

1958: 576 + 198

1959: 587 + 272

1960: 582 + 293 F. Bellardi

1961: 594 + 300

1962 : 569 + 276

1963: 562

1964: 571

1965: 595 

1966: 638

Deutsche Schulvereinigung Goethe-Schule

1961: 58 (Unterstufe) Dr. Von Soubiron

1962: 173 Dr. W. Busch

1963: 194 + 301 (Oberstufe)

1964: 213 + 355

1965: 221 + 410

1966: 224 + 455

Asociación Escolar Goethe 

Unterstufe Martinez, Belgrano Oberstufe, Präsident

1967: 676 195 441 Dr. W. Busch

1968: 882 234 431

1969: 808 237 454

1970: 876 234 415

1971: 910 250 400

1972: 915 248 462 J. G. A. Bähr